Alle Kraft der Lyrik
Ursula Haeusgen ist Stifterin des Lyrik Kabinetts in München. Was vor 30 Jahren als Buchhandlung begann, ist heute eine Sammlung von öffentlicher Bedeutung. Zum Jubiläum gibt es aber auch eine Missstimmung
Als Ursula Haeusgen vor 30 Jahren begann, ihrer Leidenschaft zu folgen, konnte sie nicht ahnen, wohin das führen würde. 1989 eröffnete sie eine Buchhandlung in der Maximilianstraße in München. Zwischen teuren Uhren, Suiten und Anzügen sollte es auch Bücher zu kaufen geben. Und keine beliebigen: Lyrik sollte es sein. Das scheiterte fünf Jahre später an der Ladenmiete ebenso wie an Haeusgens wachsender Abneigung gegen Verkäufe. Lieber sammelte sie. Durchstöberte alle Kataloge zur Lyrik, die sie finden konnte. 1500, 2000 Bände pro Jahr kamen dazu. Die Buchhandlung schloss fünf Jahre später, der Bestand wuchs weiter. 63000 Bände sind es heute – damit bietet das Lyrikkabinett die zweitgrößte öffentliche Poesiesammlung Europas nach der „Poetry Library“ in London.
Die Erbin eines globalenMaschinenbau-Unternehmens
Denn Ursula Haeusgen – 77 Jahre alt, wache, blaue Augen, bayerische Mundart – ließ sich von dem Rückschlag mit der Buchhandlung nicht in ihrer Leidenschaft aufhalten. „1994 habe ich einen gemeinnützigen Verein gegründet und meine Bücher als Grundstock für die heutige Bibliothek eingesetzt.“ 2003 schließlich hob Haeusgen die Stiftung „Lyrik Kabinett“ aus der Taufe, stattete sie mit reichlich Grundkapital aus und ermöglichte den Umzug in einen Neubau, in dem sie seit 2005 residiert. Warum das alles? Sie, die Erbin eines globalen Maschinenbau-Unternehmens (Hawe-Hydraulik) und gelernte Kauffrau, hätte ein zurückgezogenes Leben führen können. Stattdessen ist sie bis heute beinahe jeden Tag im Kabinett; noch immer stöbert sie in Katalogen, wählt bis zu 2000 Bände im Jahr für die Bibliothek aus. Die soll weiter wachsen, der Nachwelt die gleiche Freude an Lyrik vermitteln, die die Stifterin selbst verspürt: „Nirgendwo erlebe ich eine solche Wirkung wie bei der Lyrik. Oft wenig Text, ganz konkret am Leben, es berührt mich sehr.“ In Gedichten finde sie alles, was sie brauche. Das Ungefähre, das Schwebende.
In der Münchner Amalienstraße können heute nicht nur Studenten der Lyrik nachspüren. Die Präsenzbibliothek steht fünf Tage die Woche jederfrau und jedermann offen. Etwa 45 Veranstaltungen im Jahr – Lesungen, Diskussionen, Tagungen – finden hier statt. Zeitgenössische Plastiken bewachen einen gläsernen Bau, innen eine Menge Kunst an den Wänden, auf Tischen und Schränken, in Vitrinen und auf dem Boden. Installationen, Zeichnungen, Fotos und Skulpturen. In schweren schwarzen Metallschränken werden die kostbaren Bücher bewahrt. Wer sie lesen will, kann das an Schreibtischen tun oder sich auf ein gemütliches Sofa lümmeln.
Ursula Haeusgen will Lyrik in die Unmittelbarkeit des Lebens holen und somit einem breiten Publikum zugänglich machen. Damit ist Lyrik aus aller Herren Länder gemeint – für alle. Im Gespräch merkt man, es ist der 77-Jährigen eher unangenehm, über ihr Mäzenatentum zu sprechen. Lieber lässt sie den Geschäftsführer der Stiftung, Holger Pils, die aktuelle Lage der Lyrik in Deutschland erklären: „Es gibt ungezählte Verlage, auch junge Avantgardisten, die Werke herausbringen. Lyrik wird wieder mehr geschätzt als früher – aber natürlich nicht mit Belletristik vergleichbar.“ Dennoch hat das Lyrik Kabinett im Laufe seines Bestehens nicht nur viele Zuschauer angelockt, sondern auch berühmte Künstler.
Durs Grünbein und Hilde Dominkamen schon zu Lesungen
Viele, die in der Poesie Rang und Namen haben, lasen hier: Durs Grünbein, Hilde Domin, John Ashbery, Volker Braun, Kurt Drawert, Seamus Heaney, Raoul Schrott. Manche von ihnen lange, bevor sie preisgekrönt waren. „Das Publikum und die Autoren“, so Pils, „sollen hier in einen Austausch kommen. Das gelingt eigentlich immer.“ Aktuell wird dem Lyrik Kabinett besonders viel Aufmerksamkeit zuteil. Schließlich existiert es nun seit 30 Jahren – und hat, pünktlich zum Jubiläum, einen kleinen Skandal am Hals.
Die zur Jubiläumsfeier eingeladene Lyrikerin Birgit Müller-Wieland hatte in einem offenen Brief protestiert und ihr Fernbleiben angekündigt. Der ehemalige Hanser-Verleger und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Michael Krüger, ist der Grund dafür. Er habe in zwei Gedichten, die ausdrücklich dem ehemaligen Präsidenten der Musikhochschule München, Siegfried Mauser, gewidmet sind, sexuelle Gewalt verharmlost und den Rechtsstaat angezweifelt beziehungsweise angegriffen. Mauser wurde mittlerweile rechtskräftig wegen sexueller Nötigung in mehreren Fällen verurteilt. Krüger ist Kuratoriumsvorsitzender im Lyrik Kabinett. Er sollte am 4. Dezember die Begrüßungsansprache halten und die Lebensleistung der Kabinettsgründerin und Stifterin Ursula Haeusgen würdigen. Wie Pils gegenüber der FAZ erklärte, habe man mit der fernbleibenden Lyrikerin ein vernünftiges Gespräch geführt und bedaure ihre Absage. Viel los also rund um den 30. Geburtstag.
Ursula Haeusgen ist froh, dass Geschäftsführer Pils sich seit sechs Jahren um die Administration kümmert. Er sagt, „wir sind ein kleines Poesie-Unternehmen“. Neben den Lesungen im Kabinett organisiert die Stiftung Workshops zur Lyrik in Schulen und gibt eigene Bände heraus. Dank der Unterstützung durch die Stadt München, des Freistaats und privater Spenden kann sich das Kabinett bei Veranstaltungsreihen und Fortbildungen engagieren. In Kooperation mit dem Hanser-Verlag erscheint zum 30-jährigen Jubiläum nun der Sammelband „Im Grunde wäre ich lieber Gedicht“. In der Anthologie sammeln sich drei Jahrzehnte Lyrik Kabinett. Die Hälfte der 260 Gedichte ist zweisprachig abgedruckt.
Während Pils erzählt, sitzt Haeusgen daneben und lächelt. „Mir wird nun klar“, sagt sie, „das hier ist mein Lebenswerk“. Als sie begonnen habe ihrer Leidenschaft nachzugehen, habe sie nicht daran gedacht, dass das Projekt einmal so groß werden würde. Und noch immer brennt in ihr das Feuer für die Lyrik. „Wissen Sie, in der Bibliothek fehlt noch so viel. Fertig ist man mit der Poesie nie.“
Die Diskussion ist geschlossen.
Der Artikel „Alle Kraft der Lyrik“ von Jonas Voss porträtiert die Grand Dame der Lyrikvermittlung. Ursula Haeusgen hat mit Ihrem Sammlerinstinkt die „zweitgrößte öffentliche Poesiesammlung Europas“ erschaffen - für jederfrau und jedermann frei zugänglich. Mein erster Besuch ins Lyrik Kabinett hatte etwas Sakrales - die leuchtend blauen Lettern des Kabinetts auf dem Boden im Gang, an den Wänden die kraftvollen Verse Baudelaires „Jeder gesunde Mensch kann leicht zwei Tage ohne Nahrung leben - ohne Poesie niemals.“ Es stand für mich fest, ich werde dieses Haus oft besuchen. Denn Lyrik lebt von der Begegnung mit Lyrik und ihren begeisterten Lyrikvermittlern. Zum Team von Frau Haeusgen muss neben der Geschäftsführung Holger Pils die emsige Pia-Elisabeth Leuschner genannt werden. Sie wirbt durch Ihre hervorragende Öffentlichkeitsarbeit für die Lyrik. Da Lyrik lokale Kreise aber ebenfalls braucht, möchte ich auf die Lyrikveranstaltungen „Augsburger Rauchzeichen“ und die Klang-Wort-experimentelle Abende von Gerald Fiebig und Martin Schmidt hinweisen. Wer darüber hinaus zwei lebende Augsburger Lyriker, die in der größten Lyrikdatenbank Europas versammelt sind, hören möchte, der gehe auf die Internetseite www.lyrikline.org und suche nach Max Sessner und Lydia Daher. Auch Brecht ist dort als O-Ton zu hören.