Das Rätsel Madonna: Kann das Kalkül gewesen sein?
Nach dem ESC-Auftritt: Ist es Zeit für einen Abgesang auf die 60-jährige Königin des Pop? Jedenfalls ist sie jetzt wieder Thema
Ein paar Tage nach dem Auftritt, da alle Häme ausgegossen und Verteidigungsreden gehalten sind, ist klar: Madonna ist mit ihrer Bühnenshow am Sonntagabend etwas noch nie Dagewesenes gelungen und noch dazu etwas völlig Unerwartetes.
Denn zum ersten Mal in seiner Geschichte hat der Eurovision Song Contest die Popwelt erschüttert. Weil die vermeintlich von einem anderen Stern gelandete Königin des Pop ausgerechnet auf dieser Regionalliga-Bühne des globalen Showgeschäfts ins Straucheln geriet. Und damit hat es die 60-Jährige seit langer Zeit mal wieder geschafft, zum heißesten Thema der Popwelt zu werden. Das ist ihr musikalisch seit vielen Jahren nicht mehr gelungen – der beim ESC präsentierte neue Song, eine Art Autotune-Reggae namens „Future“, gibt da auch wenig Hoffnung. Zudem hat ihr die Popularitätsspitze in der größten Fan- und Medien-Resonanz auf Veröffentlichungen und Inszenierungen zuletzt deutlich eine andere abspenstig gemacht: Beyoncé. Zum Beispiel, als Madonna kürzlich die baldige Ankunft eines neuen Albums verlautbarte, absorbierte prompt der ohne Vorankündigung erschienene Konzert-Film zum Auftritt der 37-Jährigen beim Coachella-Festival alle Aufmerksamkeit. Man konnte da schon zweifeln: Ist Madonna, die nach dem Tod von Michael Jackson und Prince einzig überlebende Ikone des in den 80ern erstmals globale Ausmaße erreichenden Pop-Geschäfts, – ist sie überhaupt noch die Königin des Pop oder bloß noch lebende Legende?
Dieser Perfektionistin passiert ein solches Malheur?
So stoßen nun zwei gleich unfassbare Lesarten der Geschehnisse von Tel Aviv aufeinander. Die erste: Der schmerzlich schlingernde Gesang und die offenkundige Unbeweglichkeit – das ist dieser vor allem auf Wirkung und Perfektion immer absolut professionellen Künstlerin tatsächlich einfach passiert. Sie gibt sich nicht nur rätselhafterweise für eine Bühne wie den ESC her, auf der live gesungen werden muss, wo sie doch bei Konzerten bekanntermaßen seit vielen Jahren mit technischer Unterstützung singt, mit dem auspegelnden Autotune-Effekt nämlich, der offenkundig auch beim nun von ihr selbst veröffentlichten Videomitschnitt vom ESC-Auftritt nachträglich eingesetzt wurde – was freilich wieder Häme hagelte, aber auch für das Platz eins in den Youtube-Charts sorgte. Und Madonna singt dann ihr legendäres „Like A Prayer“ auch noch in einer Akustikversion, die alle Gesangsdefizite unüberhörbar in den Vordergrund drängt – während um sie herum eine perfekte, so ästhetische wie deutungsreiche Madonna-Show schnurrt, samt Kirchenkritik, Gender-Appell, Friedensaufruf an Israel und Palästina, Barbarei-Mahnung an die Welt. Dieser Madonna passiert ein solches Malheur einfach so?
Aber, zweite Lesart: Kann das Kalkül gewesen sein, sich so bloßzustellen? Tatsächlich haben alle heutigen Pop-Prinzessinnen ihr Show-Handwerk bei Madonna gelernt – Beyoncé & Co. überbieten sich in Inszenierungen mit dem Pomp und der Perfektion eines Videodrehs, gezielt gesetzte Provokationen inklusive. Was in all dem aufgeht und persönlich unkenntlich wird, ist der Star selbst. Die 60-jährige Madonna ist an jenem Abend menschlich kenntlich geworden wie lange nicht. Oder? In drei Wochen erscheint das neue Album. Es heißt „Madame X“.
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