Der mustergültige Musikproduzent
Das herausragende Plattenlabel ECM, beheimatet vor den Toren Münchens, ist 50 Jahre alt. Sein Kopf ist Manfred Eicher, der so stur wie seriös die großartige Musik fördert – sei es Jazz, sei es Klassik
1969 war das Jahr, in dem die Erde gleichsam kurz innehielt. Innerhalb eines Sommers geschahen spektakuläre Dinge: Woodstock, die Mondlandung, die Manson-Morde, die Gründung von Apple und Christopher-Street-Day.
Die Welle bahnbrechender Veränderungen machte auch vor Deutschland-West nicht Halt. Mit Willy Brandt kam erstmals ein sozialdemokratischer Bundeskanzler an die Macht, und in Pasing vor den Toren Münchens, zog ein schnauzbärtiger, oft unfreundlicher junger Mann die Notbremse. Manfred Eicher, Schallplattenverkäufer aus Lindau am Bodensee, war damals 26 Jahre alt, ein in Berlin klassisch ausgebildeter Bassist mit starker Affinität zum Jazz. In jenen Tagen spürte er, dass seine Musik im Jahr der gesellschaftlichen Revolution unterzugehen drohte. Gerade Woodstock führte ihm vor Augen, dass der Rock den Jazz von der Bühne der populären Musik gefegt hatte.
Also beschloss er unverzüglich Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ein eigenes Plattenlabel galt in jener Zeit noch als utopisch, weil verbunden mit immensen Kosten und als Monopol quasi nur den Branchenriesen zu Eigen. Aber der muffige Vinyl-Dealer zog es durch. Mit zwei Mitstreitern verlieh Eicher seinem Traum vom besonderen Klang Gestalt. Nach seinem Willen sollten Jazzaufnahmen mit derselben Hellhörigkeit und dem technischen Fingerspitzengefühl behandelt werden wie Kammermusikproduktionen. Schon der Name ECM – Edition of Contemporary Music – signalisierte jedem, dass man kleinliche Glaubens- und Revierkämpfe im Bereich Jazz möglichst weit hinter sich lassen wollte. Das passte zu Eichers Sprödigkeit.
Elf Mal vom US-Jazz-Magazin Down Beat ausgezeichnet
Jetzt, im Spätherbst 2019, können Manfred Eicher und ECM goldene Hochzeit feiern. Inzwischen gilt 1969 tatsächlich als der Beginn einer außergewöhnlichen Karriere, einer stillen, leisen Revolution, deren Auswirkungen bis in die heutigen Tage spürbar sind. ECM, das nach wie vor in der bayerischen Provinz beheimatet ist und im Laufe der Zeit lediglich ins benachbarte Gräfelfing übersiedelte, gilt als die Jazz- aber auch Klassikmarke weltweit, als der ästhetische Maßstab in Sachen Klang – und Eicher, heute 76, als graue Eminenz. Beide besitzen längst den Nimbus eines Markenzeichens. Das Label und sein Gründer als Produzent gewannen in jüngerer Vergangenheit elf Mal die Kritiker-Umfrage des US-Jazzmagazins Down Beat als „Label of the year“ und „Producer of the year“. Außerdem gab es diverse Grammys.
Es sei ihm nie um Trends gegangen, sagt Eicher. „Ich produziere Platten, weil ich glaube, dass der Künstler und seine Musik in den ECM-Katalog passen.“ So einfach ist das. Und doch so schwierig. Das Verdienst des nach wie vor eher in sich gekehrten, selten lächelnden Label-Chefs liegt darin, exakt jene Leute zu finden und zusammenzubringen, die in ihrer Gesamtheit das Besondere von ECM ausmachen. Die Assoziationskette besteht deshalb aus großen Namen: Keith Jarrett, Jan Garbarek, Arvo Pärt, Chick Corea, Pat Metheny, Hilliard Ensemble, Charles Lloyd, Steve Reich, Ralph Towner, The Art Ensemble Of Chicago, Paul Motian, Terje Rypdal. Und aus der neuen Generation der Fährtenleser setzen mittlerweile Vijay Iyer, Anouar Brahem, Julia Hülsmann, Craig Taborn, David Virelles, Aaron Parks, Ethan Iverson oder Nick Bärtsch das Abenteuer fort. Sie alle befinden sich auf der Suche nach imaginären Klängen und unbekannten musikalischen Territorien.
Keith Jarretts erfolgreichste Jazz-Platte aller Zeiten erschien bei ECM
Rund 1600 Aufnahmen gibt es inzwischen, darunter die mit über vier Millionen verkaufter Exemplare erfolgreichste Jazzplatte aller Zeiten, Jarretts „Köln Concert“. Dazu Meilensteine wie Methenys „Offramp“, Coreas „Return To Forever“ und „Officium“ mit Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble. Rund 1000 Produktionen sind nach wie vor als Tonträger erhältlich – allen Schwanengesängen auf die Compact Disc zum Trotz. Obwohl die Veröffentlichungen seit Ende 2017 auf den einschlägigen Streaming-Portalen abrufbar sind, bleibt das physische Format für Manfred Eicher das maßgebliche Medium. Erst die fein ausbalancierte Dramaturgie unterschiedlich gearteter Tracks ermöglicht aus seiner Sicht jene Reisen in „hörbare Landschaften“, die ECM einzigartig werden lassen. Noch immer versteht er eine ECM-Veröffentlichung als Gesamtkunstwerk, bei dem Klang, visuelle Gestaltung und Haptik auf spezifische Weise zusammenspielen.
Als der unscheinbare Plattenverkäufer 1969 mit geliehenen 16 000 Mark an den Start ging, da konnte niemand ahnen, was folgen würde. „Free At Last“ hieß die allererste ECM-Veröffentlichung – was durchaus programmatisch zu verstehen war: der Schlusssatz von Martin Luther King aus seiner berühmten „I have a dream“-Rede, die der damals in München lebende afroamerikanische Pianist Mal Waldron für sein Trio übernommen hatte. Ein akustischer Widerhaken im Hörfleisch, ein provokant-eleganter musikalischer Gewaltakt. Auf „Afric Pepperbird“ dann von 1970 tauchte zum ersten Mal der bis dato unbekannte Norweger Jan Garbarek auf.
1972 schon berichtete der Spiegel erstmals über das Label des Münchner „Einzelgängers“, für das sich immer mehr prominente US-Musiker interessierten. Weil dort, so das Nachrichtenmagazin, die „derzeit besten Jazz-Aufnahmen“ erschienen, „mustergültig in Klang, Präsenz und Pressung“.
Goldberg-Variationenmit Andras Schiff
Irgendwie logisch, dass Eicher bei so vielen Anleihen bei der Klassik irgendwann selbst zu dieser zurück kommen würde – zu seinen Bedingungen. Die Begegnung mit der Musik Arvo Pärts öffnete die Tür, und „Tabula Rasa“, jene epochale Aufnahme, durch die der estnische Komponist weltweite Bekanntheit erlangte, legte 1984 den Grundstein für die New Series. Seit Jahren veröffentlichen György Kurtág und Heinz Holliger wesentliche Teile ihres Œuvres bei ECM. Interpreten wie das Hilliard Ensemble, Kim Kashkashian, Gideon Kremer und András Schiff (Bachs „Goldberg Variationen“) legen exemplarische Interpretationen der Klassiker vor und sorgen für aufregende Repertoire-Neuentdeckungen.
Und als Quintessenz gab es immer wieder genreübergreifende Projekte beider Reihen von den Aufnahmen des „Codona“-Trios über „Officium“, dem Zusammentreffen zwischen Jan Garbarek und den Hilliards, bis hin zu François Couturiers Tarkovsky-Quartett.
Manfred Eicher ist ECM ist Manfred Eicher. Der Musiker, der Eigentümer, der Produzent, der dem einst noch unbekannten Keith Jarrett einen Brief schrieb („Who’s ECM?“) und einfach Garbarek fragte, ob er nicht zu ihm kommen wolle. Auf diese Weise entstanden Freundschaften mit Gleichgesinnten. Ein Handschlag zählt mehr als jeder Vertrag, selbst bei einem Superstar wie Jarrett. Die Urzelle einer künstlerisch und finanziell erfolgreichen Geistesverwandtschaft. Eicher: „Unsere Arbeit basiert auf dem Prinzip der Dauer.“ Was so viel bedeutet wie einem Künstler allen Raum zur Entwicklung zu geben, möglichst ein ganzes Leben lang. Eicher selbst will diesen Prozess als Produzent begleiten; als Partner, der von der Auswahl der Aufnahme-Orte, über die musikalische Formung des Albums bis hin zum einzigartigen Cover-Design federführend an allen Arbeitsprozessen beteiligt ist. Da produziert einer in seltener Sturheit und Seriosität ausschließlich das, was ihm gefällt, besser: was ihn bewegt.
Manfred Eicher setzt empfindsame Innerlichkeit an die Stelle von rauer Expressivität, waches aufeinander Hören an die Stelle roher Kraft, schwelgende Melancholie, tragische Gebrochenheit, kammermusikalischen Klang an die Stelle von Chaos. Er schafft Gegensätze, die keine Grenzen aufreißen, sondern Missverständnisse klären. Revolution klang niemals schöner.
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