Die Berlinale endet mit zwei Auszeichnungen für deutsche Beiträge
Kein Publikum, die Berlinale im Digitalmodus: Die 71. Ausgabe zeigte sich als amputierte Veranstaltung. Filmisch aber war das Festival ergiebig.
Etwas lässt sich nach dieser Berlinale im Heimkinomodus mit Sicherheit sagen: Ein Festival ohne Publikum ist kein Festival. Es fehlen nicht nur die Stars und der Glamour. Es fehlen die unmittelbare Reaktion und die Kommunikation, die das Blut in den Adern eines jeden Filmfests sind. Wenn im ausverkauften Berlinale Palast 1700 Zuschauer bei einer Weltpremiere dem Geschehen oben auf der Leinwand ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, spürt man, ob ein Film es schafft, sein Publikum zu gewinnen, ob eine Szene ins Herz trifft oder völlig daneben geht. Das gemeinsame Sehen im Kino ist – gerade bei einem Festival – ein spannungsgeladener Prozess mit ungewissem Ausgang.
Nach den ersten Minuten von „Bad Luck Banging or Loony Porn“ des rumänischen Regisseurs Radu Jude hätten wahrscheinlich einige den Saal frühzeitig verlassen – und den verdienten Gewinner des Goldenen Bären verpasst. Ohne Vorwarnung beginnt der Film mit einem privaten Pornovideo. Primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale in Großaufnahme. Blowjob. Sex. Peitsche. Die volle Packung. Emi (Katia Pascariu) und ihr Ehemann haben das Filmchen aufgenommen, das auf einer Pornoseite im Internet landet. Emi ist Lehrerin an einem Gymnasium und soll sich nun auf einer Elternversammlung verantworten. Aber zuvor begleitet die Kamera sie eine gute halbe Stunde bei ihren Besorgungen kreuz und quer durch Bukarest.
Die Berlinale blickt gleich mehrfach auf den Osten Europas
Und es ist fantastisch, wie Radu Jude hier scheinbar beiläufig ein Panorama der rumänischen Gesellschaft zeichnet, in die sich Egoismus, Rücksichtslosigkeit und ein obszönes Gefälle zwischen Arm und Reich tief in den Alltag eingebrannt haben. Danach folgt eine lange Montage, die in Videoschnipseln von A bis Z historische und aktuelle Ungeheuerlichkeiten im Lande auflistet, bevor sich im dritten Akt die Lehrerin vor einem wütenden Eltern-Mob wegen eines rein privaten Vergehens verteidigen muss. Geradezu brillant gelingt es Jude, die Doppelmoral und Sündenbockstrategien einer Gesellschaft freizulegen, die den sozialen Darwinismus zur Leitkultur erhoben hat.
Aus Osteuropa kamen in diesem verkleinerten Wettbewerb ohnehin einige der stärksten Beiträge. Der georgische Regisseur Alexandre Koberidze erzählt in „Was sehen wir, wenn wir in den Himmel schauen?“ eine lyrisch mäandernde Liebesgeschichte, die auf Dialoge weitgehend verzichtet, aber durch Erzählerkommentare, Alltagsbeobachtungen, magischen Realismus und die Fußballweltmeisterschaft angetrieben wird. Der ungarische Wettbewerbsbeitrag „Forest – I See You Everywhere“ von Bence Flieg–auf baut in einer Episodenstruktur mehrere kleine Psychodramen zu einem Sittengemälde aus.
Das Gastgeberland darf sich in diesem Jahr über zwei Silberne Bären freuen, die allerdings wie alle Preise erst während des „Summer Events“ im Juni vor Publikum überreicht werden sollen. Für die beste Hauptrolle wurde Maren Eggert ausgezeichnet, die in Maria Schraders „Ich bin dein Mensch“ als Wissenschaftlerin den Prototyp eines humanoiden Roboters auf dessen romantische Beziehungsfähigkeit austesten soll. Fein nuanciert spielt Eggert, die dem TV-Publikum als Polizeipsychologin Frieda Jung im Kieler „Tatort“ vertraut ist, die widerstrebenden Gefühlslagen im Annäherungsprozess zwischen der selbstbewussten Skeptikerin und dem androiden Frauenversteher aus. Mit dem Preis, der in diesem Jahr erstmalig genderneutral vergeben wurde, gliedert sich Eggert in eine lange Reihe von deutschen Schauspielerinnen ein, die während der letzten Jahre mit dem Silberbären ausgezeichnet wurden: Nina Hoss (2007), Sandra Hüller (2006), Julia Jentsch (2005), Bibiana Beglau und Nadja Uhl (2000).
Preis der Jury bei Berlinale für deutsche Dokumentation
Den Silbernen Bären, Preis der Jury, erhält die deutsche Dokumentation „Herr Bachmann und seine Klasse“. Über 217 spannende Filmminuten begleitet Regisseurin Maria Speth einen engagierten Lehrer, der den Klassenraum im hessischen Stadtallendorf für seine multikulturelle Schülerschaft zu einem sicheren Hafen der Akzeptanz, Empathie und Lebensneugier ausbaut.
Fast schon wie eine Utopie wirkt dieser einfühlsame Dokumentarfilm, der zeigt, dass gegenseitige Aufmerksamkeit der Schlüssel zu einer diversen, demokratischen Gesellschaft ist. Ein Silberbären-Gewinner der zärtlichsten Art ist auch der japanische Beitrag „Wheel of Fortune and Fantasy“ von Ryusuke Hamaguchi. In dem Episodenfilm wird der Zufall zur treibenden Kraft und bringt die Menschen miteinander in Gespräche, die mit spielerischer Leichtigkeit enorme Intensität entwickeln.
Unspektakuläre Filme triumphieren bei Berlinale
Im diesjährigen Wettbewerb waren es oft die unspektakulären Filme, die den Weg ins Herz fanden. In „Petite Maman“ schickt die französische Regisseurin Céline Sciamma ein achtjähriges Mädchen auf Entdeckungsreise in den Wald, der schon für ihre Mutter in Kindertagen ein Rückzugsort war. Eine Mutter-Tochter-Beziehung stellt auch die kanadisch-libanesische Produktion „Memory Box“ von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige ins Zentrum, und das iranische Todesstrafen-Drama „Ballad of a White Cow“ von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam verdichtet sein politisches Thema ebenfalls wirkungsvoll auf ein intimes Format.
Aufgrund der Pandemiefolgen musste sich der diesjährige Berlinale-Wettbewerb mit einer geringeren Auswahl zufriedengeben. Auch wenn keine Meisterwerke herbeigezaubert wurden, ist es dem Festival gelungen, die Vielfalt des Weltkinos angemessen zu präsentieren. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Filme beim durchaus optimistisch terminierten Publikumsevent vom 9. bis 21. Juni tatsächlich den Weg auf die Leinwand finden.
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