
Diesseits der Gefühle - Martin Walsers Tagebücher

Hamburg (dpa) - Wenn ein Mann wie Martin Walser Tagebuch schreibt, dann ist das nicht einfach nur ein Tagebuch.
Der inzwischen dritte Band seiner privaten Aufzeichnungen "Leben und Schreiben" aus den Jahren 1974 bis 1978 könnte ebenso gut als Anthologie, als Sammlung tiefgründiger Geistesblitze, ironischer Kommentare, geistreicher Aphorismen, zauberhafter Poesie, trauriger, verstörender Gedanken und bitterböser, literarisch aufbereiteter Rachegelüste bezeichnet werden. Rachegelüste, resultierend aus tiefer Wut und Verzweiflung und der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht.
Es ist ja kein Geheimnis, dass der mehrfach preisgekrönte Autor seit Jahren ein Problem mit dem Literaturkritiker Marcel Reich- Ranicki hat. Spätestens seit der Veröffentlichung seines Erfolgsbuches "Tod eines Kritikers" (2002) weiß man um das ambivalente Verhältnis Walsers zu jenem Mann, der 1976 seinen Roman "Jenseits der Liebe" verriss und den Schriftsteller in eine tiefe Krise stürzte. Die Zeit danach ist geprägt von Selbstzweifel, Ängsten, Zurückweisungen, Leiden - körperlichen wie seelischen. Sie nehmen in den Tagebüchern viel Raum ein.
Die Kritik Reich-Ranickis zu "Jenseits der Liebe" mit dem bereits alles vernichtenden Titel "Jenseits der Literatur" erschien am 27. März 1976 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - ein zugegebenermaßen ziemlich übles Geschenk zum 50. Geburtstag des Autors drei Tage zuvor, denn sie beginnt mit den Sätzen: "Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen." Walser ist gedemütigt, sieht sich und sein Werk ungerecht behandelt. Ein großer Schriftsteller schrumpft zum Zwerg, sucht ein Mauseloch - aber nicht, ohne vorher "M R-R" (Reich-Ranicki) eine Ohrfeige für dessen "unbewiesene" Unterstellungen anzudrohen, die unter anderem auch Walsers politisches Engagement in Zweifel ziehen.
Die Lektüre macht es leicht, Walsers Gemütsbewegungen nachzuempfinden. Ein gekränkter Mann, der Satisfaktion will und später doch jedes Zusammentreffen mit Reich-Ranicki meidet. Er ist beleidigt, dass man sich im Freundes- und Verlegerkreis, nachdem man dort "M R-R" eine "reflexionsfreie, nuancenlose, bösartige Tonlage" bescheinigt hat, anderen Themen zuwendet. Seine Gefühle sind prompt und direkt wie die eines Kindes: Ich habe mich bemüht, ich habe versucht, etwas gut zu machen. Mir ist bitter Unrecht getan worden. Ich muss mich wehren. Dann die Zweifel: Habe ich es wirklich gut gemacht? Kann ich es überhaupt? Wie soll es weitergehen? Werde ich jemals wieder Erfolg haben? Darauf die Wut, die Ohnmacht. Der erst Verwöhnte und Hochgelobte und nun der tief Gefallene. Hinzu kommen Probleme eines Familienvaters der alltäglichen Art: Geldknappheit, Sorgen um die vier Töchter.
Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld redet ihm aus, etwas gegen den FAZ-Kritiker zu unternehmen, auch nicht gegen die Autoren der Wochenzeitschrift "Die Zeit" und der "Süddeutschen Zeitung", die "Jenseits der Liebe" vielleicht nicht so böse, dafür aber subtiler und genauso vernichtend beurteilen. "Es hieße, deren Vergnügen mit mir zu verlängern, wenn ich mich jetzt zu wehren suchte", kommentiert Walser. "Das Schwerste ist dieses Stillseinmüssen." Und: "Ich behaupte, auf meinem Gebiet kann es nicht schlimmer kommen. Dezember 75 bis April 76, das ist der berufliche Tiefpunkt der beruflichen Laufbahn."
Doch diese Gefühle werden ihn über Jahre nicht loslassen. Gegen Ende der Tagebücher und mit der Veröffentlichung seiner Novelle "Ein fliehendes Pferd" im Frühjahr 1978 kommt Walser eine bittere Erkenntnis: "Anlass zur Entwertung aller früheren Bücher. Jeder, der mir etwas Nettes sagen will über das kleine Buch, gesteht jetzt, was ihm an früheren Büchern nicht gefiel. Der Erfolg beweist ihnen alles. Dann wäre dieser vernichtende Erfolg besser unterblieben."
Manchmal sind sie traurig, manchmal trotzig und immer mit ein wenig (gekränkter) Eitelkeit, diese Regungen und Gemütsoffenbarungen. Und sie sind natürlich nicht nur auf Walsers literarisches Schaffen beschränkt. Das, was Reich-Ranicki ihm unter anderem abspricht, sein politisches Interesse und ehrliches Engagement, ist in und zwischen den Zeilen zu lesen, kommentiert oder als blanke Aussage. Auslandsaufenthalte, Lesungen und Ereignisse jenes kurzen Zeitabschnitts - der Selbstmord der RAF-Terroristen Baader, Meinhof und Ensslin, die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch die RAF, ja auch der Tod Elvis Presleys finden Eingang in die Notizen. Genauso wie Kommentare zu Begegnungen und Freundschaften mit anderen Schriftstellern und Geistesschaffenden wie Günter Grass, Uwe Timm, Max Frisch, Peter Weiss, Peter Handke oder Jürgen Habermas.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass Martin Walser, dessen literarische Karriere bereits in den 50er Jahren begann, seine Tagebücher ohne einen Gedanken an eine spätere Veröffentlichung schrieb. Jedenfalls nicht mehr, nachdem er wie in den 70er Jahren bereits einen Sockel erklommen hatte, hinabstürzte und wieder hinaufkletterte. Dieses Sammelsurium aus meist schön formulierten Alltäglichkeiten, aus nichtalltäglichen Versen und Gedanken eines Sprachkünstlers ist auf ein Publikum, auf eine Leserschaft ausgerichtet - und das ist gut so.
Leben und Schreiben
Tagebücher 1974-1978
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
590 Seiten, Euro: 24,95
ISBN: 978-3-498-07369-5
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