Für den Jazz packen alle an
Die „Internationale Jazzwoche Burghausen“ findet zum 50. Mal statt. Ihre Initiatoren stellten in der Provinz ein Ereignis auf die Beine, zu dem bis heute Weltstars anreisen. Und Bürger wie Musiker helfen mit
Für die meisten Menschen ist Jazz Großstadtmusik, die nur in Metropolen wie New York, Paris, London und Tokio erklingt. Der krasse Widerspruch dazu ist Burghausen. Eine Kleinstadt am südöstlichen Zipfel Bayerns an der Grenze zu Österreich, 19000 Einwohner, bekannt durch die größte Burganlage der Welt und die Wacker Chemie als Wirtschaftsmotor.
„Das ist ein furchtbares Nest, und viel kann man da nicht anfangen“, stöhnte 1962 der Gerichtsvollzieher Helmut Viertel, als er vom 200 Kilometer entfernten Neuburg nach Burghausen versetzt wurde. Selbst in dem Donaustädtchen war seinerzeit mehr los gewesen: Dort hatte Viertel vier Jahre zuvor den hoch angesehenen „Birdland Jazzclub“ gegründet. Und weil Viertel nun mal gerne Lunten für langwierige Flächenbrände legt, beschloss er, dies auch in seiner neuen Heimat zu tun. Er blieb dran, suchte Gleichgesinnte – bis an der Salzach ebenfalls ein „Birdland-Jazzclub“ seine Arbeit aufnehmen konnte. Es war der Beginn einer fantastischen, ziemlich bayerisch geprägten globalen Geschichte.
Seit 1970 gibt es in Burghausen das Festival „Internationale Burghausener Jazzwoche“, das in dieser Woche zum 50. Mal stattfindet und damit zu den langlebigsten in ganz Europa zählt. An Burghausen lässt sich so gut wie an keinem anderen Ort sowohl der rasante Wandel des Jazz auf der einen wie dessen nachhaltige Wirkung auf der anderen Seite festmachen. Das Programm und die mit Beharrlichkeit, Leidenschaft, Enthusiasmus plus Bauernschläue geköderten Weltstars haben die Stadt zu einem international anerkannten „Big Player“ aufsteigen lassen. Dazu kommt die Begeisterung der Bevölkerung, die im Jazz keinen touristischen Faktor sieht, sondern ein Lebensgefühl. Die Burghausener sind stolz auf „ihre“ Jazzwoche, sie identifizieren sich mit ihr. Der Jazz gehört seit Jahrzehnten wie die Burg zum Bild der Stadt. Der seit 1990 amtierende Bürgermeister Hans Steindl (SPD) ist selbst ein Jazz-Anhänger: Als Jugendlicher entflammte er für die auftretenden Künstler der Jazzwoche lichterloh und beschloss daraufhin, Saxofon zu lernen. Seither betätigt er sich als stolzer Hausherr oder Conférencier und genießt nahezu jede Festivalminute. Sein Vorgänger Georg Miesgang (CSU), ein Jurist mit guten Kontakten zum Bayerischen Rundfunk, stand sowieso auf Jazz – vor allem auf Chris Barber.
Also ließ sich Helmut Viertel 1970 einen Trick einfallen, indem er ein Konzert mit der britischen Dixie-Legende organisierte – was den Rathauschef dazu veranlasste, eine Stadtratssitzung zu unterbrechen und die Damen und Herren Volksvertreter einfach in den nahen Stadtsaal zu lotsen. „Da standen sie dann und lauschten 20 Minuten Chris Barber“, erinnert sich Viertel. „Die Stadträte sollten mal hören, wie Jazz klingt.“ Als Miesgang den legendären Satz „Geid howi koans, awa an Stadtsaal kennt’s hom“ aussprach, stand einem Festival in seiner Stadt nichts mehr im Weg.
Freilich brauchte es noch Anschub durch einen externen Experten. Diese Rolle sollte dem Münchner Joe Viera zufallen. Viera ist studierter Physiker, doch sein Herz gehörte von jeher dem Jazz. Der Saxofonist, Komponist, Autor und Dozent ließ sich vor den Karren spannen – trotz mäßiger Erfahrungen mit der Stadt: „Nie mehr Burghausen!“, hatte Viera nach seinem ersten Aufenthalt 1969 an der Salzach geschimpft, bei dem so gut wie alles schief lief. Er hatte sich mit Musik-Kurzfilmen und Vorträgen über Jazz auf Reisen befunden. Dabei wurde er im Hotel in eine Telefonzelle eingesperrt, weil er die Übernachtung nicht bezahlen wollte. Viertel kam, löste den Gast aus, begleitete ihn zum Bahnhof und erwähnte, dass er gern etwas Größeres mit Jazz in Burghausen aufziehen würde. Beide redeten sich fest, sodass Viera mehrere Züge abfahren ließ, bis er doch endlich in einen einstieg. Vom Waggon aus winkte er und rief: „Ich mach mit“.
Viera ist so etwas wie Weltrekordler in der Leitung eines Jazzfestivals: 50 Jahre! Das schafften bislang weder Claude Nobs (Montreux), George Gruntz (Berlin) noch Walter Schätzlein (Nürnberg). In diesen 50 Jahren kamen Stars wie Ella Fitzgerald, Count Basie, Oscar Peterson, Art Blakey, Dizzy Gillespie, Dexter Gordon, Stéphane Grappelli, John McLaughlin, Dave Brubeck, McCoy Tyner, Cecil Taylor, Abdullah Ibrahim, Esbjörn Svensson, Jan Garbarek und Marcus Miller in die Provinz. Dass es mit der Erfüllung seiner Wünsche früher leichter war als jetzt, räumt der heute 87-Jährige ein. Man müsse halt Kompromisse schließen, um die Menschen auch 2019 noch zu locken – etwa durch die Hinzunahme zeitgeistiger Musikströmungen. Diese Zugeständnisse fallen in Burghausen jedoch von jeher moderater und überlegter aus als anderswo.
Gleichwohl: Ausgerechnet im Jubeljahr weist das Programm unerwartete Schwächen auf. Mit Mühe kann man den englischen Jazz-Entertainer Jamie Cullum und das experimentelle Pianotrio Rymden (beide zeitgleich am 30. März) als Highlights ausmachen. Dies liegt auch daran, dass sich Festivalveranstalter heute in erster Linie nach den Tourneedaten von Künstlern zu richten haben und nicht die Musiker nach dem Zeitpunkt von Festivals. Früher kamen Count Basie und die Mingus Big Band eigens für Burghausen aus den USA – was auch manch tiefes Loch in die Festivalkasse riss. Die legendären Musikernamen existieren allenfalls noch in der 1999 eröffneten Burghauser „Street Of Fame“, für die die Stadt Bronze-Reliefplatten in den Boden einließ. Bislang 42 Schmuckstücke tragen die Namen, Unterschriften und Lebensdaten großer Jazzer, die in Burghausen zu Gast waren.
Dass alles so lange klappte, lag auch daran, dass die Burghausener Jazzwoche nie das Projekt eines einzelnen Enthusiasten war, sondern ein Gemeinschaftswerk vieler Helfer. Viertel, heute 83: „Die Leute haben sich freiwillig gemeldet. Der Zahnarzt hat Karten abgerissen und die Türen abgesperrt, der Vorhang-Fritze ist an der Kasse gehockt. Da habe ich keinen zu bitten brauchen, die sind einfach da gewesen. Das Schuhgeschäft hat mir den Kleinbus geliehen. Nicht, dass das absolute Jazz-Freaks gewesen wären – nein, nein. Die Idee, dass in Burghausen was passiert, damit habe ich die Leute begeistern können.“
In einem Buch, das die örtliche IG Jazz zusammen mit der Stadt und dem Bayerischen Rundfunk herausgegeben hat, stehen diese und viele andere Beobachtungen. Auch jene über die einst von der Boulevardpresse hochgejazzte Story zu Chet Baker, dem tragisch-genialen Trompeter, der 1976 wegen seiner Drogenvergehen in Burghausen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde. Die beiden Journalisten Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer vom Bayerischen Rundfunk haben ihre kurzweilige Jubiläumsschrift mit viel Herzblut verfasst. „It Has Lines In Its Face“ („Es hat Lebensfalten im Gesicht“) lautet der philosophische Titel – gemäß einem Zitat von Jamie Cullum. Eine Liebeserklärung an das „Jazz-Nest“ Burghausen (erhältlich unter www.b-jazz.com).
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