Herta Müller findet in der Landschaft das Landschaf
Die Literaturnobelpreisträgerin schneidet Wörter aus Katalogen und Zeitungen aus und setzt sie neu zusammen. Phänomenal, was dabei alles herauskommt.
Unter dem Bild eines Paares weißer Schuhe kleben acht Wörter:
Schnee wird
NIE EINE Jahreszeit
sondern schleichende
Maßarbeit
Die Wörter haben verschiedene Farben, Schriften und Größen. Die Dichterin Herta Müller hat sie einzeln ausgeschnitten aus Katalogen, Zeitschriften, Zeitungen – und zusammengefügt zu einem Wortbild, einem geklebten Gedicht. „Jedes Wort ist ein anderer Gegenstand“, erklärt die Literaturnobelpreisträgerin, für die das Schreiben mit gefundenen Wörtern selbstverständlich geworden ist. Mit dem neuen Bild-Gedicht-Band „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ legt Herta Müller nach „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“ und „Vater telefoniert mit den Fliegen“ ihr drittes Buch mit Klebe-Lyrik vor.
Das Komponieren aus einem reichen Vorrat an ausgeschnittenen Wörtern ist weit mehr als nur eine schöne Spielerei. „Jedes Wort einzeln anzufassen ist der intensivste Kontakt zu Sprache“, meint die Autorin, deren um Illustrationen erweiterte Klebegedichte es auch als Editionen in Galerien und auf Kalenderblättern gibt. Diese Gedichte sind Wortbilder, farbige Collagen, dem Auge ein sinnliches Vergnügen über das Lesen hinaus.
Zeitweise kroch
das Schlüsselloch die
Tür hoch es war
eine karierte Ameise.
Die Lust am Finden und Kombinieren, das Sich-überraschen-Lassen von Zufall und Intuition, das Vertrauen in die Botschaften der Wörter, die „gewartet haben“ – all das klingt in diesen geklebten Fugen an. Es gibt in den Gedichten Lieblingswörter, die immer wieder einmal auftauchen wie „Augenweiß“ oder „Melancholie“. Und auf fast jeder Seite baut Herta Müller neue Wörter, fügt zusammen, was die Poesie zusammenruft. Sommerstaub, Koffertrauer, Narrenmond, Kupferkleid, Kaltmorgen, Heimwehgift, Flüsterrad, Silberzimmer, Gräsertanzen, Tagverschieber, Aprikosenschalter, Hasenfälscher … – Bausteine aus dem Ausschnitt-Archiv.
Die Farben tönen die Wörter, sagt Herta Müller
„Die Texte klingen, weil die unterschiedlichen Farben die Wörter tönen und die unterschiedlichen Größen ihnen eine unterschiedliche Stimme geben. Auf jeder Karte steigt der Text mit dem Bild auf eine Bühne, jede Karte inszeniert ihr kleines Theater“, schreibt die Regisseurin Herta Müller.
In diesem Zauberbuch begegnen sich auf wundersame Weise in einem Gedicht Wolkenzähler und Kartoffelschäler, in einem anderen tauchen unbekannte, seltsame Berufe auf: Etagen-Ingenieur, Jalousien-Dirigent und Keks-Spion. Wörter machen alles möglich – auch ein Schwarzkissen oder eine Watteuniform. Im Vorwort gewährt Herta Müller einen Blick in ihre Werkstatt. Sie erzählt, wie alles begann, wie sie im Zug oder im Flugzeug (als man Nagelscheren noch mit an Bord nehmen durfte …) Worte ausgeschnitten und auf weiße Karteikarten geklebt hatte. Eine Spielerei zunächst. „Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen können.“ Zwei Jahre stand in ihrer Wohnung ein Wörtertisch, auf dem Berge ausgeschnittener Wörter lagen – das Spielgeld der Lyrikerin.
Irgendwann, schreibt Müller, wurde daraus eine richtige Werkstatt. Mit einem „Wörterschränkchen“ voller Schubladen, in denen, alphabetisch geordnet, ihr Rohmaterial lagert. Tausende Bausteine für noch ungebaute Gedichte …
Gedichte, in denen zum Beispiel der Griff in die Schublade mit „K“ sehr ergiebig sein kann. „Kunst der Krümmung einer Kaffeetasse“ heißt es in einem Klebe-Poem. Klang und Reim machen die Worthäuser, die sich mal vier, aber auch zehn Etagen hoch türmen können, stabil.
Die Pfütze
ist eine Sache aus
nassem Licht. Das
begreift die Straße nicht
Ein kurzer Schnitt, und alles wird anders
Weil jedes einzelne Wort individuell ist, ein autarkes Wortwesen, vermittelt sich der Eindruck, dass die gefügten Gedichte ein höheres spezifisches Gewicht haben. Das Ausschneiden hat auch die Sinne der Dichterin anders sensibilisiert. „Wenn ich ein ,T‘ am Ende abschneide, wird aus der Landschaft ein Landschaf“, schreibt Herta Müller über die Steinbrüche, aus denen sie ihre Findlinge holt. „In Herzkrankheit ist ein fertiger Herzkran drin.“ Als sei die Dichterin mit unsichtbaren magnetischen Kräften im Bunde, die jedes Einzelgängerwort in die passende Gesellschaft ziehen, erscheinen vor den Augen des Betrachters Gedichte wie Bilder aus einer anderen Welt.
Ach gezacktes
Brombeerblatt ich
hab es satt dass
du jetzt schon wieder
fragst, was ich mit
meinem Leben mach
„Wortbesitz im Überfluss ist das Gegenteil von früher, von Zensur“, schließt Herta Müller, die einst aus Rumänen davonging, ihren Werkstattbericht. Und weil es so wunderbar nachhallt aus ihrem Wörterbildband, noch ein letztes Klebegedicht:
Jeder Moment
balanciert eine Weile
zuerst verschwinden die
dokumentarischen Teile
- Herta Müller: Im Heimweh ist ein blauer Saal. Hanser, 128 S., 22 €
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