Im Kopf von Nick Cave: viel Tod, viel Jesus, viele nackte Frauen
Mit einem Überraschungsalbum taucht der singende Dichter aus seiner Trauerphase auf. Ein Bildband gibt dazu tiefe Einblicke.
Wie sich das wohl anfühlt, sein Innerstes öffentlich auszustellen? Dass auch Wildfremde in ureigensten Gedanken und Gefühlen blättern, in die klaffenden Abgründe und auf den für sich gefundenen Glauben blicken können? Bei der Künstlerpersönlichkeit Nick Cave, diesem singenden Dichter, der zudem noch malt und Romane schreibt, bei diesem lustvollen Schmerzensmann ist das ja von jeher Programm. Aber doch noch nie so wie jetzt, wo er zugleich mit einem neuen, überraschend veröffentlichten Album sein momentanes Befinden und zugleich in einem Bildband sein bisheriges Leben offenlegt.
63 ist der Australier inzwischen, der in den 80ern einige Jahre in Berlin lebte und an der Spitze der Bad Seeds von jeher eine Art Kultfigur ist, weltweit wirkend in seinem steten Wechsel aus verzweifelter Wut und verklärter Romantik, zwischen strahlendem Popstar und dunklem Magier. Vor fünf Jahren aber, da hatte er gerade seine kunstvolle Filmautobiografie „20000 Days on Earth“ vorgestellt, da zerriss diesem Nick Cave, gänzlich unkünstlerisch und unverklärbar, das Herz, als einer seiner Söhne, gerade 15 Jahre alt, tragisch in den Tod stürzte. Dramatisch und von geradezu archaischer Düsternis war darum, was er auf zwei Alben seitdem veröffentlichte, mehr klanglich unterlegte Trauerdichtung als Musik. Aber umso persönlicher wirkt nun, wie er sich aus dieser Dunkelheit wieder zurück ins Leben arbeitet.
"Carnage" ist offensichtlich ein Werk des Lockdowns
Auf „Carnage“, jenem Album, das er offenbar im Lockdown mit Seeds-Mitstreiter Warren Ellis erarbeitet und nun jedenfalls unvorangekündigt veröffentlicht hat: Da beginnt Nick Cave nach einem fast schon versöhnlichen gedichteten Auftakt mit „Hand of God“ irgendwann auch, endlich wieder zu singen. Er feiert endlich wieder eine Soundorgie („White Elefant“), schwelgt endlich einmal in Romantik („Balcony Man“) – und bekennt sich dabei vor allem, im Titelsong, zur Liebe, die uns bei aller Düsternis doch bleibe und retten könne. Es ist ein Neuanfang, in dem der Mensch greif- und spürbar wird.
Er setzt damit musikalisch eine öffentliche Aufarbeitungs- und Bekenntnisarbeit fort, die er Ende des vergangenen Jahres mit einer tatsächlichen Ausstellung in Kopenhagen begonnen hatte. Unter dem Titel „Stranger Than Kindness“ hat Cave dabei Zeugnisse seines Lebens öffentlich gemacht, private Fotos von der Kindheit bis zur Hochzeit mit Susie Bick, vor allem Auszüge aus seinen Textbüchern, dazu gesammelte Gegenstände, Kritzeleien und die Geschichten dazu. Das alles gibt es nun auch als Buch (samt deutschem Booklet). Es ist ein Blick in Caves Kopf, seine Seele. Bevölkert von Massen an religiösen Motiven, Monströsem und Messianischem, sehr oft Jesus. Und vielen nackten Frauen, die Cave wie in automatisierten Fingerübungen bei jeder Gelegenheit zeichnet. Gerade mal neun war der junge Nick, als sein Vater ihm die ersten Sätze von Nabokovs „Lolita“ vorlas, um ihm zu zeigen, wie die gestaltet seien, um Wirkung zu erzielen. Eine drastische Initiation und zugleich Momente größter Nähe, die es je zwischen Sohn und Vater gab …
Nick Cave will man dann doch lieber nicht sein
„Ein unterstützendes System von manischen tangentialen Informationen“ nennt Cave den Inhalt, das sei nicht eigentlich Kunst. Bei aller kunstvollen Präsentation und Ästhetik etwa in Caves Gestaltung der Notizbücher – das stimmt. Aber es ist eine Initiation, Moment größter Nähe, mehr als in der daraus entstehenden Kunst wohl. Und von einer Eigentümlichkeit, die auch vergegenwärtigt: Es gibt gute Gründe, Nick Cave zu verehren – aber ebenso gute, nicht er sein zu wollen.
Die Platte Nick Cave und Warren Ellis: Carnage Goliath Records/Rough Trade.
Das Buch Nick Cave: Stranger Than Kindness Übs. Christian Lux. Kiepenheuer & Witsch, 276 Seiten, 29 Euro.
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