Israelische Autorin Zeruya Shalev: „Dieses Buch hätte mich fast umgebracht“
In ihrem neuen Roman „Schicksal“ führt Zeruya Shalev auf eine poetisch eindringliche Reise durch Vergangenheit und Gegenwart Israels. Welche Hoffnung hat sie für die Zukunft ihres Landes?
In „Schicksal“ weiten Sie den Horizont Ihres Erzählens, indem Sie die Geschichte des Staates Israel viel stärker thematisieren als früher. Gab’s dafür eine innere Notwendigkeit?
Zeruya Shalev: Ich weiß es nicht. Für mich ist der Beginn eines Buches immer ein Geheimnis, da gibt es keine bewussten Entscheidungen. In dem Fall stand mir ein Bild vor Augen: Wie die Figur der Rachel an eine Tür klopft. Ich wusste nicht viel über sie, aber mir war klar, dass sie eine stark ideologisch geprägte Frau ist. Deshalb erkannte ich in ihr ein Mitglied der Lechi, einer Untergrundorganisation, die gegen die britische Mandatsherrschaft vor Gründung Israels kämpfte. So begann ich weiter über sie nachzudenken, und ich begriff, dass diese Figur aus meinen innersten Gefühlen hochgetaucht war.
Könnte man auch sagen, dass Sie aus Ihren Erinnerungen entstammt? Ihr eigener Vater gehörte doch auch der Lechi an.
Shalev: Das ist keine autobiografische Geschichte. Zumal mein Vater nie am aktiven Kampf beteiligt war, er kümmerte sich um die Propaganda der Lechi, schrieb Essays, Gedichte und textete Plakate. Das Ganze hat eher mit den Empfindungen meiner Kindheit zu tun – einem Gefühl der Frustration. Denn meine Mutter kommt aus einem Kibbutz, also einem anderen, linksgerichteten Milieu. Und so lieferten sich ihr Vater und mein Vater heftigste ideologische Diskussionen. Die beiden Männer mochten einander sehr, aber sobald es um Politik ging, hätten sie sich töten können – im übertragenen Sinne. Und ich als Kind saß dabei und konnte das nicht verstehen: Woher dieser Fanatismus? Ich wollte es auch nicht verstehen, sondern habe mich in die Welt meiner eigenen Fantasie geflüchtet. Zum Glück waren die Frauen in meiner Familie sanfter, auf Kompromiss und Ausgleich bedacht – anders als Rachel.
Können Sie diese Haltung jetzt verstehen?
Shalev: Ja, denn ich habe mir das psychologische Instrumentarium dafür besorgt. Wobei ich immer eine Distanz zu derart ideologisch bewegten Menschen verspürt habe. Ich kann mich nicht mit ihnen identifizieren. Für das Buch habe ich viel zur Lechi recherchiert, habe mir viele Interviews mit alten Menschen angesehen, die in ihrer Jugend fanatische Freiheitskämpfer waren, aber ich wollte sie nicht treffen. Denn ich wollte meinen Abstand und damit meine Unabhängigkeit wahren. Hinzu kamen dann die Erinnerungen an die Geschichten, die mein Vater erzählte. Aber, wie gesagt, alles fing damit an, dass Rachel an eine Tür klopfte. Und das ist jetzt sechs Jahre her.
Sechs Jahren, in denen nicht zuletzt in Israel viel geschehen ist. Wie haben Sie selbst sich seither verändert?
Shalev: Ich habe wieder zu rauchen angefangen.
Bei unserem Interview ziehen Sie ja auch an Ihrer E-Zigarette.
Shalev: Aber das ist leider nicht das Einzige, was ich rauche. Dieses Buch hat mich jedenfalls fast umgebracht. Das begann schon damit, dass ich während der Arbeit daran von Jerusalem nach Haifa umgezogen bin. Und in einer neuen Stadt zu schreiben, war enorm schwierig. Und dann kam auch noch die Covid-Situation hinzu. Und es war eben eine enorme Herausforderung, mich so sehr den dramatischen Punkten der Geschichte meines Landes anzunähern, und Menschen zu verstehen, die für mich vor ein paar Jahren noch völlig uninteressant waren. Andere Figuren wiederum – besonders Atara, die Tochter von Rachels ehemaligem Mann, waren emotional extrem aufreibend. Ich muss immer alles mitempfinden, was meine Charaktere durchmachen. Und dann schreibe ich Stunden lang, was mich enorm erschöpft.
Im Ensemble Ihrer Figuren findet sich zum ersten Mal ein Vertreter der Ultraorthodoxen, der eine Schlüsselrolle in der Handlung spielt. Wollten Sie dieser Richtung eine Plattform geben?
Shalev: Nein, ich habe da regelrecht Widerstand geleistet. Aber vor meinem geistigen Auge sah ich plötzlich, wie ein massiver ultraorthodoxer Mann Rachels Wohnung betritt. Ich fragte mich: Warum? Ich habe mich literarisch noch nie mit dieser Thematik beschäftigt. Das Buch hat ohnehin schon genügend andere Themen. Und ich versuchte hartnäckig, Alternativen zu finden. Aber diese Figur blieb weiterhin in meinem Geist präsent. Und nach ein paar Wochen erkannte ich: Es gibt keinen anderen Weg. Dass es dazu gekommen ist, ist eine der größten Überraschungen dieses Buches für mich. Wobei diese Figur nicht den Stereotypen des Ultraorthodoxen entspricht.
Das heißt, Sie haben die Entwicklung der Geschichte nicht bewusst gesteuert?
Shalev: Ich entwickle ihre Themen in Zusammenarbeit mit den Charakteren. Diese versuche ich besser und besser zu verstehen, damit ich ihre Stimme werden kann. Und auf diese Weise zeigt mir die Geschichte ihre Struktur. Ich folge dabei instinktiv unbekannten Prozessen, von denen ich nicht weiß, wohin sie mich führen. Meine Aufgabe besteht darin, aufmerksam zuzuhören, zu recherchieren und alles aufzuschreiben.
Sie selbst haben Kinder, darunter einen jungen Sohn. Welche Haltung hat denn die jüngere Generation zur Vergangenheit Israels?
Shalev: Das kann man nicht generalisieren. Die Kinder aus den säkularen Familien interessieren sich nicht so sehr für die Vergangenheit. Die wollen einfach nur ein normales Leben führen. Die Kinder aus den konservativen Familien, die also politisch rechtsgerichtet sind, zeigen in der Regel ein stärkeres Interesse. Aber ich würde diese Diskrepanz gerne überwinden. Denn es ist auch für die säkulare Jugend wichtig, dass sie sich damit vertraut machen, auch mit dem Tanach, der Hebräischen Bibel. Ich habe jedenfalls versucht, das Interesse meiner Kinder zu wecken, und im Lauf der Zeit ist das auch gewachsen.
Nachdem Sie nun so intensiv in die Vergangenheit Ihres Landes eingetaucht sind, sind Sie optimistischer, was dessen Zukunft angeht?
Shalev: Nein, mein Optimismus ist dadurch nicht gewachsen. Das Buch hat nur das bestätigt, was ich schon vorher wusste. Was mich hoffnungsvoll stimmt, ist das Leben in Haifa, weil es hier eine wunderbare Koexistenz zwischen Juden und Arabern gibt. Die Mitglieder der Lechi hatten damals diesen Traum. Sie glaubten, wir könnten alle friedlich zusammenleben, sobald die Briten abgezogen sind. Aber sie waren natürlich völlig blind, denn sie hatten keine Ahnung, mit wem sie es auf der arabischen Seite zu tun hatten. Sie verstanden nicht deren geistige Beschränkungen – und auch nicht die eigenen.
Wie lassen sich diese Beschränkungen überwinden?
Shalev: Mit Kreativität und Mäßigung. Wenn die gemäßigten Kräfte zusammenarbeiten, dann gibt es eine Hoffnung. Und man muss lernen, die andere Seite zu verstehen. Das ist auch eine Erfahrung, die Rachel macht, selbst wenn es bei ihr nur darum geht, den eigenen Sohn zu verstehen.
Nun hat Israel eine neue Regierung. Ist diese Anlass zur Hoffnung?
Shalev: Durchaus. Mir ist klar, dass die neue Regierung aus Führungspersonen besteht, die in vielem unterschiedlicher Ansicht sind. Aber sie sind trotzdem bereit, zu kooperieren und haben ein freundschaftlich-vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut. Denn ihr Ziel ist es, das Land von diesem egoistischen, korrupten Regime Netanyahus zu retten. Und so ist meine Hoffnung, dass sie auch einen Stimmungswandel herbeiführen, der uns allen mehr Freundschaft und gegenseitiges Verständnis bringt – zwischen Juden und Arabern, Säkularen und Orthodoxen.
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, wuchs in Beit Berl auf. Nach ihrer Militärzeit, in der sie als Sozialarbeiterin arbeitete, studierte sie Bibelwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – „Liebesleben“, „Mann und Frau“, „Späte Familie“ – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Ihr jüngster Roman ist „Schicksal“ (Berlin Verlag, 416 Seiten, 24 Euro).
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Ich finde Zeruya Shalev gut.. das Interview finde ich gut. Das Buch werde ich mir kaufen und lesen..