Jessye Norman ist tot - sie beherrschte die gesamte Fülle des Wohllauts
Jessye Norman ist tot. Dem Faszinosum ihrer überwältigenden Stimme konnte sich kaum einer entziehen: samtenes Schwarz in der Tiefe, Goldbrokat in der Höhe
Was tun Normalsterbliche, wenn sie einen Menschen über die Maßen bewundern, gleichsam auf den Knien anbeten?
Sie erheben ihn zum Gott, respektive zur Göttin.
Das gibt’s im Sport, das gibt’s in der Kunst – dort eben, wo Höchstleistung den Menschen bewunderungswürdig über den Menschen hinaushebt. Wegen seiner konstruktiven Seiten.
Jessye Norman ist eine Göttin genannt worden. Man kann, man muss das verstehen. Auch wenn sie sich selbst – majestätisch – nicht als Göttin betrachtete: „Ich finde es lieb und nett, wenn jemand Göttin schreibt. Aber wenn ich das lese und drei oder vier Stunden vorher selbst mein Kleid fürs Konzert gebügelt habe, dann nehme ich an, dass eine Göttin sich etwas anderes einfallen lässt. Eine Prinzessin schon würde das nie tun.“
Also keine Göttin, keine Prinzessin. Wie aber fasst man dann in einem Satz wenigstens zusammen, was diese Jessye Norman zu einem Ereignis, zu einem Naturphänomen, zu einer zumindest gottbegnadeten Sängerin machte? Es wird ein ziemlich langer Satz.
Jessye Norman beeindruckte mit einem Pianissimo bis in die letzten Konzertsaalreihen
In ihm müssen die Voraussetzungen für die gesamte leuchtende Fülle ihres Wohllauts ebenso anklingen wie die Voraussetzungen für die Sinnhaftigkeit ihrer höchsten Kunstinterpretationen – also auf der einen Seite dieser überwältigende Stimmumfang zwischen Alt und Sopran, dieses Samtschwarz in der Tiefe und dieses Brokatleuchten in der Höhe, dieses strömende Volumen, das sie bestürzend in ein Pianissimo abblenden konnte, das dennoch bis in die letzten Reihen großer Konzerthäuser trug, diese Farben, diese prächtigen dunkelglühenden Farben, diese kaum festzumachende Spannbreite zwischen Lyrischem und Dramatischem, und auf der anderen Seite ihr Suchen und Forschen und Lernen für das Optimum von Kunstdarstellung, für die seriöse Vermittlung des Sinnzentrums.
Wer Jessye Norman noch erleben konnte, etwa als überragende Strauss-Ariadne, etwa in Arnold Schönbergs Monodram „Erwartung“, gegeben 1995 in Salzburg, wo heute noch – als Devotionalie – im Festspielhausfoyer die schwarze Marmorbank aus Robert Wilsons Inszenierung glänzt, der weiß, was in diesem einen, viel zu knappen Satz zusammengefasst ist.
Bekannt wurde Jessye Norman auch durch den ARD-Musikpreis
Das alles ist nun nicht mehr. Jessye Norman ist am Montag 74-jährig in einem New Yorker Krankenhaus gestorben – und die Todesursache liest sich gemein und trivial: septischer Schock und Multiorganversagen infolge von Komplikationen nach einer Rückenmarksverletzung 2015. Die Auserwählte muss zu Grabe getragen werden.
An dieser Auserwählung hat der Münchner ARD -Musikpreis schönen Anteil: Nach kindlicher Ausbildung in einer siebenköpfigen farbigen Baptisten-Musikerfamilie von Augusta/Georgia in den USA, wo auch Gospel auf der Tagesordnung stand, nach Studien auch unter anderem in Baltimore, reiste Jessye Norman mit einem Stipendium nach Deutschland – und gewann 1968, veni, vidi, vici, eben diesen ARD-Musikpreis.
Worauf sich umgehend ein Vertrag an der Deutschen Oper Berlin anschloss – kein provinzielles Sprungbrett. Dort startete sie ihre Weltkarriere, in deren Verlauf sie strahlend große Opernpartien von Beethoven (Leonore), Verdi (Aida), Wagner (Elsa, Elisabeth, dazu eine Schallplatten-Sieglinde) sang, noch mehr aber Konzerte und Liederabende gab. Das waren dann vokale Hochämter.
1988, mittendrin in der allgemeinen Anbetung der Auserwählten, sagte Jessye Norman: „Was mein Gesang den Zuhörern bedeutet, das weiß ich nicht. Vielleicht werde ich es später verstehen.“
Vielleicht hat sie es später noch verstanden, vielleicht nicht. Man muss auch nicht alles verstehen.
Aber wir, ihre Zuhörer, wussten, was sie uns bedeutet.
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