Warum wir nicht vom Alkohol lassen können
Mit Alkohol im Blut feiern die Endorphine Party. Doch wehe die Dosis steigt. 100 Jahre nach der Prohibition ist klar: Die trockene Gesellschaft gibt es nicht.
Freitagnacht in der Augsburger Maximilianstraße: Die Party-locations entlang der Prachtmeile füllen sich von Stunde zu Stunde, man trinkt Bier und Cocktails, die Stimmung steigt. Doch nach Mitternacht wird es oft ungemütlich. Für die Polizeistreife beginnt ein Einsatz, bei dem mit allem zu rechnen ist: Beschimpfungen, Aggressionen, Schlägereien, Angriffe. Die Beteiligten sind meist schwer betrunken – und geraten außer Rand und Band. Zu viel Alkohol kann sogar den unscheinbarsten Menschen in eine unberechenbare Bestie verwandeln, der, wieder im nüchternen Zustand, sein Verhalten sich selbst nicht zu erklären vermag. Was passiert mit uns, wenn wir Alkohol trinken?
Seine Wirkung scheint dem kleinen Molekül namens Ethanol eingeschrieben zu sein: Sechs Wasserstoff- und ein Sauerstoffteilchen sitzen wie bei Tisch um zwei Kohlenstoff-Atome herum. Im 3D-Modell gleicht das Molekül einem Hündchen. Es ist ein geselliges Kerlchen, das uns entspannt, heiter, redselig macht. Die Endorphine feiern Party, wenn der Alkohol sich seinen Weg über das Blut ins Gehirn bahnt. Die Menschen um uns herum wirken sympathischer, die Gesellschaft lustiger und die Gespräche verlieren ihre Schwere. Amerikanische Psychologen stellten fest, dass moderater Alkoholgenuss das Gruppengefühl steigert, die soziale Bindung fördert und sich die Beschwipsten öfter anlächeln und miteinander reden als die Abstinenten.
Überschütten aber immer mehr Ethanolmoleküle unseren Körper, dann breiten sich Müdigkeit, Trübsinn und Streitlust aus. Dahin ist die Leichtigkeit, wenn das Sprechen ins Lallen umschlägt und der Gang ins Schwanken gerät. Dann schlägt mit Luthers Worten „der Saufteufel“ erbarmungslos zu. „Es ist kein Laster, wodurch ein Mensch seiner Sinnen beraubt wird als dies.“
Die Polizei weiß davon ein Klagelied zu singen. In keiner bayerischen Großstadt werden Polizisten häufiger beleidigt und gewalttätig attackiert als in Augsburg. Auch in 2018 ist die Tendenz im Polizeipräsidium Schwaben Nord weiter steigend. Meistens sind die Tatverdächtigen stark alkoholisiert. Im Innenstadtrevier lag 2017 der durchschnittliche Wert bei 1,8 Promille. In den Ausnüchterungszellen landen Typen im unwürdigsten Zustand. „Sie sind nicht mehr imstande, verständlich zu sprechen, und es treten alle Körpersäfte aus“, berichtet Polizeisprecher Siegfried Hartmann.
In der Prohibition blühte die Organisierte Kriminalität auf
Am Steuer toleriert der Gesetzgeber bis zu 0,5 Promille Blutalkohol – freilich nur, wenn keine Ausfallerscheinungen vorliegen. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass sowohl die alkoholbedingten Verkehrsunfälle in Schwaben Nord zunehmen als auch die „folgenlosen“ Trunkenheitsfahrten mit über 1,1 Promille.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hinterfragt inzwischen ihre „risikoarme Schwellendosis“. Bislang liegt sie für Männer bei 24 Gramm Alkohol pro Tag – zwei Pils oder ein Schoppen Wein – und für Frauen, die Alkohol anders verarbeiten, bei der Hälfte. Heutzutage empfehlen Experten allenfalls die Hälfte. Und zwei alkoholfreie Tage sollten eingelegt werden. Ulrich John, Sozialmediziner an der Universität Greifswald, rät sogar: „Am besten gar nichts.“ Aber ist das nicht realitätsfern? Lässt sich eine Gesellschaft trockenlegen?
Der größte Feldversuch hierzu begann vor 100 Jahren in den USA: die landesweite Alkoholprohibition. Sie betraf allerdings nur den öffentlichen Ausschank, was privat konsumiert und produziert wurde, blieb unangetastet. Der legendäre Gangsterboss Al Capone spottete: „Wenn ich Schnaps verkaufe, ist es Schmuggel. Wenn meine Kunden ihn auf einem Silbertablett servieren, ist es Gastfreundschaft.“ In der Prohibition blühte die Organisierte Kriminalität auf, allein in New York zählte man in den 20er Jahren 32800 Kneipen, doppelt so viele wie zuvor. Immerhin starben in diesen Jahren des Verbots deutlich weniger Amerikaner am Alkohol. Aufgehoben wurde die Prohibition, als 1933 die Weltwirtschaft in der Krise steckte; der Staat brauchte Steuern.
Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow unternahm 1985 ebenfalls den Versuch, die dem Wodka ergebenen Russen trockenzulegen. Er ließ Weinberge planieren, Brennereien und Brauereien schließen, hob die Preise für Alkohol drastisch an. Russischen Daten zufolge wurden so 1,2 Millionen Menschenleben gerettet. Aber das Volk murrte, nach drei Jahren brach der Präsident das Experiment ab. Ausgerechnet Boris Jelzin, ein Mann, der den Wodka liebte, folgte dem abstinenten Gorbatschow nach.
Der Gesundheitsökonom Robert Nuscheler an der Universität Augsburg hält staatliche Regulierung immer dann für gerechtfertigt, wenn die Kosten des Alkoholkonsums bei der Gesellschaft als Ganzes anfallen und nicht allein beim Konsumenten. „Es möchte sich nicht jeder gesund verhalten.“ Ein generelles Alkoholverbot würde über das Ziel hinausschießen. „Dies gilt es bei der Bestimmung der optimalen Regulierung zu berücksichtigen.“ So strikte Gesetze wie in Skandinavien „wären in Deutschland wahrscheinlich nicht durchsetzbar“.
Ein gutes Beispiel für eine milde, aber wirksame Regulierung sei etwa das nächtliche Verkaufsverbot für Alkohol in Baden-Württemberg gewesen. „Die alkoholbedingten Klinikeinweisungen von Jugendlichen sind um sieben Prozent zurückgegangen – und damit auch die Kosten für die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten.“ Das Ländergesetz brachten nach sieben Jahren ausgerechnet die Grünen 2017 zu Fall. Bei der Steuer auf Alkohol sieht Gesundheitsökonom Nuscheler ebenfalls Spielraum. Der Suchtstoff sei in den letzten fünfzig Jahren relativ zur Preisentwicklung deutlich billiger geworden. „Studien besagen: Wenn man den Preis um ein Prozent anhebt, geht der Konsum um ein halbes Prozent zurück.“
1,8 Millionen Deutsche seien alkoholabhängig, weitere 4,5 Millionen davon gefährdet
An den Lobbyisten ist bisher jede Initiative gescheitert, die Werbung für Alkohol einzuschränken. Der Umsatz mit Bier, Schnaps, Wein und Sekt betrug nach der Statistik der deutschen Alkoholwirtschaft im Jahr 2016 immerhin 14,25 Milliarden Euro. Die Deutschen süffeln auf hohem Niveau. Zusammengerechnet schlucken sie pro Kopf 9,5 Liter reinen Alkohol im Jahr. Ungehört verhallen die Mahnungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Neben einem Werbeverbot verlangt sie zudem, Alkohol erst ab 18 zu verkaufen, um das häufige Rauschtrinken zu reduzieren. Denn die organischen Schäden seien bei Jugendlichen durch Alkoholgenuss erheblich größer, ebenso das Suchtrisiko.
Das so schmeichelhafte Molekül setzt dem Organismus ziemlich zu. „Alkohol ist ein Zellgift und kann alle Organe schädigen. Über 200 Krankheiten können durch Alkohol ausgelöst werden“, weiß Professor Helmut K. Seitz, Direktor des Alkoholforschungszentrums der Universität Heidelberg. Das energiereiche, kleine Molekül aus drei Bausteinen allen Lebens greift in verschiedene Körperprozesse ein: in den Stoffwechsel, das Hormonsystem, die Immunabwehr, die Informationsübertragung der Nerven bis ins Gehirn. Vor allem die Leber hat zu leiden, bis dass sie einschrumpft. Aber auch die Bauchspeicheldrüse, die Speiseröhre, Magen und Darm werden in Mitleidenschaft gezogen.
In seinem neuen Sachbuch „Die berauschte Gesellschaft“ (Kösel- Verlag) zählt Seitz in aller ärztlicher Nüchternheit auf, was der Alkohol auf seinem Weg von den Lippen bis zur Ausscheidung im Körper alles anrichtet. Einschließlich des giftigen Acetaldehyds, das beim Abbau von Alkohol entsteht. Es ruft Krebs hervor, vor allem mit Nikotin. Seitz räumt auf mit dem Wissenschaftsmythen, das tägliche Glas Wein würde dem Herzen guttun und ließe die Menschen länger leben. Tatsächlich fördere der Alkohol Herzrhythmusstörungen und schwächt die Pumpfunktion des Herzens, er bringt die Blutfette und den Zuckerhaushalt durcheinander.
Ein Gläschen in Ehren toleriert auch der Arzt. Wenn es dabei bleibt. „Ein Viertel Wein genügt mir“, sagt Seitz. Doch er weiß, wie verbreitet riskantes Trinken hierzulande ist. „Nicht erst heute ist es mit dem Alkoholkonsum schlimmer geworden“, warnt er. 1,8 Millionen Deutsche seien alkoholabhängig, weitere 4,5 Millionen davon gefährdet. Unter den 17- bis 21-Jährigen registriert Seitz sogar eine höhere Neigung zum Rauschtrinken. Aufklärung tue not, um zu einem gesundheitsbewussten Umgang mit Alkohol zu motivieren. Am besten ist noch moderater Weingenuss. Nach einer Studie im British Medical Journal zeigen Weintrinker einen eher gesünderen Lebensstil. Drei Millionen Kassencoupons hat sie ausgewertet und stellt fest, dass Käufer von Wein im Laden zu mehr Obst und Gemüse greifen, verglichen mit Bier- und Schnapstrinkern.
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