Star-Geiger Nigel Kennedy: "Ich traue keinen Ärzten mehr!"
Nigel Kennedy spricht über das, was es für ihn heißt, Künstler zu sein – aber auch über schlimme Erfahrungen in der Kindheit, seine Wut und die Freiheit.
Mr. Kennedy, Ihre Autobiografie heißt im Original „Unzensiert“. Sind Sie denn schon mal zensiert worden?
Nigel Kennedy: Ja, und zwar durch meine geliebte BBC. Als ich mich bei denen für meine Freunde in Palästina stark gemacht hatte, wurden aus meiner Rede 20 oder 30 Sekunden herausgeschnitten. Ich habe nicht mal etwas sehr Politisches gesagt, sondern nur, dass es schön wäre, wenn meine Freunde dort unten jeden Tag Zugang zu Wasser und elektrischem Strom hätten. Dinge also, die für uns selbstverständlich sind. Und was meine Autobiografie angeht: Der Original-Verleger in England wollte mir erzählen, worüber ich alles schreiben könne. Er dachte an ein politisch korrektes Buch. Da sagte ich zu ihm: „Fuck off! Ich habe mein Leben allein gelebt.“
Sie schreiben, Ihr Stiefvater, ein Arzt, schlug Ihre Mutter. Er rannte sogar mal mit dem Messer hinter Ihnen her. Wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?
Kennedy: Ich traue keinen Ärzten mehr! Beim Schreiben sind mir all diese Dinge peu à peu wieder eingefallen, aber ich lebe nicht in der Vergangenheit. Ich bin von so viel positiver Energie umgeben, was die Leute betrifft, mit denen ich zu tun habe. Ich denke normalerweise nicht an negative Dinge. Aber da ich als Kind schlimme Erfahrungen machen musste, habe ich das halt aufgeschrieben. Als mein Stiefvater mich mit einem Messer jagte, lief ich ihm davon und versteckte mich in einem Park. Dort wurde ich Zeuge einer Schwarze-Magie-Zeremonie, bei der ein Tier geopfert wurde. Da draußen war es offensichtlich auch nicht besser als zu Hause.
Wie konnten Sie sich gegen Ihren Stiefvater wehren?
Kennedy: Jedes Mal, wenn mein Stiefvater aggressiv bzw. gewalttätig wurde, rief ich die Polizei. Die im Haus zu haben, war schlecht für seinen Ruf als Doktor. Mit der Zeit benahm er sich besser.
Später bekamen Sie von Yehudi Menuhin ein Stipendium für die Menuhin School. Veränderte sich Ihr Leben zum Guten, als Sie sein Schüler wurden?
Kennedy: Diese Schule war nicht leicht für mich, aber zum Glück war Yehudi Menuhin eine charismatische, unverfälschte Person. Er hat nicht nur technisch Musik gemacht, er war auch ein spiritueller und sehr offener Künstler und Mensch.
Was zeichnet einen guten Lehrer aus?
Kennedy: Ich hatte in meinem Leben drei Lehrer, und die waren alle fantastisch. Meine erste Lehrerin war sehr rücksichtsvoll, denn sie merkte schnell, dass ich als Sechsjähriger mich höchstens zehn Minuten konzentrieren konnte. Sie gab mir dann Schokolade und ließ mich in ihrem Garten spielen. Der zweite Lehrer war Yehudi, ein großer Musiker und Charismatiker. Und dann war ich bei der Violinpädagogin Dorothy DeLay in New York. Sie zeigte mir, wie man sich alles selbst beibringen kann. Das war ein wichtiger Punkt in meinem Leben.
Was bedeutet es, als Künstler ein Freigeist zu sein?
Kennedy: Um Freiheit zu erlangen, muss man in der Lage sein, seine eigenen Strukturen zu schaffen. Ein Künstler ist ein freier Geist, wenn er sich nicht an Lehrpläne hält oder andere kopiert.
Ihr Vivaldi-Album „Vier Jahreszeiten“ von 1989 veränderte Ihr Leben von Grund auf und wurde eine der meistverkauften klassischen Platten überhaupt. Warum fühlten Sie sich nach diesem Erfolg in der klassischen Welt so unwohl?
Kennedy: Die Leute dachten, ich sei schuldig, nachdem ich zwei Millionen Platten verkauft hatte. Ein klassischer Musiker oder ein Jazzer darf nach deren Verständnis höchstens 5000 Einheiten absetzen. Es gab so viele, die mich kritisiert haben – und dann haben sie versucht, aus Neid das Gleiche zu tun. Ich habe mich nie wie ein typischer klassischer Musiker verhalten. Ich war schon immer ein bisschen ein Motherfucker und spiele auch auf der Straße oder in Jazzclubs. Ich bin manchmal auch wütend, denn ich bin ein Mensch. Vielen klassischen Musikern wurden die Gefühle abtrainiert. Vielleicht sind die zu Hause furchtbar. Ich bin nicht wie Gandhi, aber ich hoffe, dass ich einige schöne Dinge mit anderen Menschen teilen kann.
Kaufen Sie Ihr punkiges Outfit bis heute auf Märkten?
Kennedy: Ich mag es nicht, mehr als 50 Euro für ein Kleidungsstück auszugeben. Das wäre Verschwendung. Zum Beispiel das Aston-Villa-Shirt, das ich gerade trage. Mir ist wichtig, was in Klamotten drin ist und nicht, was auf ihnen draufsteht …
Geben Sie Ihr Geld lieber für Instrumente als für Markenkleidung aus?
Kennedy: Nun, ich habe sicher viel zu viele Violinen hier, aber auch Gitarren, ein Cello, fünf Pianos. Ich gebe aber nicht wirklich viel Geld für solche Dinge aus. Ich habe einige moderne Geigen gefunden, die genauso gut sind wie die alten. Ein Geigenbauer, den ich sehr schätze, sitzt in Brooklyn und heißt Stigman Tovich. Seine Kopie einer Guarneri klingt besser als mein Original. Wenn man ohne Klassenbewusstsein einfach zuhört, kann man erstaunliche Dinge entdecken.
Wann haben Sie das erste Mal gespürt, dass Sie als Violinist ein rechtmäßiger Interpret des musikalischen Erbes von Jimi Hendrix sind?
Kennedy: Ich hatte sofort einen Bezug dazu, als ich „Purple Haze“ spielte, weil ich wusste, wie das Kronos Quartet es auf sehr klassische Weise getan hat. Ich dachte, da muss doch ein verdammter Rhythmus drin sein. Hendrix hatte nicht umsonst Mitch Mitchell in seiner Experience. Nachdem ich „Purple Haze“ in einer Live-show gespielt hatte, rief mich die Hendrix Stiftung an: ob ich nicht mehr von seiner Musik interpretieren wolle. Wenn die mich fragen, bedeutet das etwas, das sich lohnt.
Sie schreiben Ihre eigenen Kompositionen nie auf. Vergessen Sie nie etwas, wenn es um Musik geht?
Kennedy: Wenn ich eigene Musik schreibe, fange ich immer abends oder nachts damit an. Vergesse ich Ideen bis zum nächsten Morgen, waren sie scheiße. Die Stärkeren überleben. Wenn man den gedruckten Scheiß vor sich hat, schränkt das das Denken ein, weil man Noten liest, anstatt der Musik zuzuhören. Man ist weniger empfindlich. Das schafft eine Barriere zwischen dir und deinen Kollegen und dem Publikum.
Die Hingabe an die Musik – dem gegenüber stehen Partyexzesse und kindische Aktionen wie das Werfen von Fernsehern von Hoteldächern …
Kennedy: Wenn man zu viel getrunken hat, sind die Reaktionen langsamer, und deshalb hat dieser Fernseher die Pet Shop Boys auch verfehlt. (lacht) Als Musiker stößt man viel Adrenalin aus, besonders vor Publikum. Alles ist sehr intensiv. Und dann fängst du an, solche Dinge zu tun, was manchmal einfach sein muss. Es schafft ein Gleichgewicht im Leben. Als Musiker reif oder erwachsen zu sein, hilft nicht. Wenn wir unser Herz offen haben und ein bisschen naiv sind, können wir verdammt gute Musiker sein. Wir sind schließlich keine Geschäftsleute.
Zur Person: Er stammt aus einer Musikerfamilie, galt als Wunderkind und vielen in der Klassik bald als „Enfant terrible“. Heute, mit 65 Jahren und gut 45 Jahre nach seinem Konzertdebüt, ist der britische Violinist Nigel Kennedy längst eine eigene Marke, sieht nach Punk aus, klingt, wonach immer er will. Seine neue Autobiografie heißt „Mein rebellisches Leben“ (Tropen, 496 S., 28 Euro).
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