Was "Ginny & Georgia" über die Teenager von heute erzählt
Dramen des Erwachsenwerdens taugten schon immer für große Erfolge. Aktuell ist das der Streaming-Hit "Ginny & Georgia", der auch ein Bild der gegenwärtigen Jugend liefert.
Die Schlagwörter zum Trend lauten Diversity und Mental Health. Nicht von ungefähr im Englischen auch hierzulande gebräuchlich, denn davon ist die Jugendsprache ohnehin geprägt – aber sie verweisen zudem auf die Herkunft. Vor allem von den USA Ausgang nehmend nämlich und von dortigen Popstars ins große Scheinwerferlicht gestellt, prägen die Erscheinungen längst auch in Deutschland Debatten der Gegenwartskultur, verursachen Social-Media-Ballungen, bestimmen die (Selbst-)Wahrnehmung der Teenager: die Vielfalt der Identität und Fragen psychischer Gesundheit.
Das macht "Ginny & Georgia" so besonders
Öhm, aber waren das nicht immer schon die Themen des Erwachsenwerdens, bloß ohne diese begriffliche Dramatik? Wer bin ich, wenn ja, wie viele – und was heißt hier normal? Haben nicht zum Beispiel Legionen an (nur zum Beispiel High-School-)Romanen, Serien und Filmen eben die Dramen des Erwachsenwerdens thematisiert und heißt nicht längst ein eigenes Genre eben auch schon typisch englisch "Coming of Age"? Genau.
Eben darum ist es umso aufschlussreicher, welches Bild von Jugend und Leben mit den aktuellen Trend-Schlagwörtern verbunden wird. Zu besichtigen nun im Genre-Hit, der Streaming-Serie "Ginny & Georgia" auf Netflix, deren neue, zweite Staffel gleich wieder an der Spitze der Charts beim Branchenführer thront.
Ginny ist die Tochter von Georgia, inzwischen 15 und damit genauso alt wie die Mutter bei ihrer Geburt. Georgia ist blond und weiß, unter prekären Verhältnissen im sogenannten „white trash“ aufgewachsen und bereits vom Vater missbraucht – aber hat sich mit allen Mitteln durchgekämpft, sodass sie ihren von zwei verschiedenen Vätern stammenden Kindern Ginny und Austin nun die Chance auf ein vergleichsweise idyllisches Aufwachsen im gehobenen Mittelstand bieten kann – mit der Aussicht, sogar die Familie des Bürgermeisters im Städtchen zu werden.
Und mit allen Mittel heißt hier wirklich: mit allen erdenklichen! Dass zwei der toxischen Männer, an die Georgia immer wieder geriet, nicht mehr leben, liegt an der ganz konkret giftigen Art, mit der sie darauf reagiert. Eine Frau, die man vor 20 Jahren noch modern genannt hätte – und die sich in den alten Geschlechterrollen gegen alle Widerstände und trotz aller traumatisierender Erlebnisse behauptet hat, ohne Therapeuten, auf sich allein gestellt, um die bloße Existenz ringend, als Kämpferin mit den Waffen einer Frau, bei der sich die Frage stellt, ob sie nun, mit 30, als Happy End eines in Rückblenden erzählten Coming-of-Age-Dramas ihr Ziel erreicht hat, ob sie dem Glücklichsein endlich vertrauen darf.
Mental Health und Diversity bei "Ginny & Georgia"
Das ist ein durchaus harter Kontrast zu Ginny und ihrer Generation. Denn in unmittelbar existenzieller Not ist hier am Ort und an der Highschool kein Teenager. Ginny, die einen schwarzen Vater (mit wiederum durchaus Black-Pride-bewegten Eltern) und krauses Haar hat, gerät noch mit dem alten weißen Mann, der ihren Englisch-Leistungskurs leitet, in Diversity-Konflikte – ansonsten aber ist bei Schülerinnen und Schülern in kultureller Herkunft und Liebesmodellen eine geradezu idealtypische Vielfalt besetzt. Was die altersüblichen Identitätskonflikte ebenso vielfältiger erscheinen lässt. Die Frage der Normalität entzündet sich dadurch auf anderer Ebene umso mehr.
Die Serie überzeugt neben starken Charakteren und guten Schauspielern grundsätzlich auch dadurch, dass sie Probleme offen und in Augenhöhe anspricht. Das kann auch schon mal heißen, dass Ginny (zu Selbstbewusstsein ermutigend für zuschauende Mädchen, die nach Altersvorgabe mindestens 16 sein müssten, aber in aller Regel jünger sein dürften) ihrem Freund Marcus durchaus zu verstehen gibt, wie sie sich angefasst fühlen will, was er besser machen könnte. In dieser (nicht gerade genretypischen) Unverklärtheit fällt darum umso mehr auf, was durch die bloße Vielzahl als normal erscheint: Probleme der "Mental Health".
Die Sehnsucht nach Staffel 3 von "Ginny & Georgia" ist schon groß
Ginny offenbart schon früh in Staffel eins, was man "selbstverletzendes Verhalten" nennt, als typisch für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung gilt und bei ihr im Zufügen von Brandwunden an der Oberschenkel-Innenseite besteht. Ihr Freund Marcus leidet, was zunehmend klar wird und schließlich in eine akute Episode mündet, unter Depressionen. Darum herum gruppieren sich weitere Anzeichen. Etwa bei Ginnys Freundin Abby, die sich unter der Jeans die Oberschenkel mit Tape schnürt, damit sie dünner erscheinen – und ist nicht die Einzige mit Bulimie …
Was sich hier auffallend häuft, sind, wie Georgia einmal erkennen muss: "broken kids", brüchige, gebrochene Teenager. Dass sie das angesichts der dramatischen Lebenskrisen, die sie selbst im Vergleich durchleben musste, kaum fassen kann, speziell als sie etwa mal zu Ginnys Therapiesitzung dazukommt – dieses Empfinden teilen ja nicht wenige Ältere. Eine Wohlstandsinflation der psychischen Probleme? Oder die endliche Benennung und Sichtbarmachung dessen, was bislang halt als Erscheinungen der Pubertät subsumiert wurde? Und dadurch mitunter nicht ernst genommen wurde? Oder nun mitunter zu ernst genommen wird?
"Ginny & Georgia" werden darauf auch in der bereits jetzt heiß erwarteten dritten Staffel keine Antwort, höchstens einen Befund liefern können. Dass es ein reines Happy End geben könnte, erscheint jedenfalls unwahrscheinlich, weil unrealistisch. Das bei einer populären TV-Serie über die Pubertät sagen zu können, aber zeugt allein schon von einer Veränderung.
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