Schauspieler Lars Eidinger: "In der Endlichkeit liegt die Schönheit"
Exklusiv Der Schauspielstar Lars Eidinger kommt wieder groß ins Kino – und spricht über die großen Fragen: Wer bin ich? Was ist wichtig im Leben? Was entzweit die Gesellschaft?
Herr Eidinger, Ihr Film "Die Zeit, die wir teilen" dreht sich um das Thema Erinnerung. Sind Sie jemand, der in den Gedanken an die Vergangenheit schwelgt oder schauen Sie eher Richtung Zukunft?
Lars Eidinger: Ich versuche, im Moment zu leben, was in gewisser Weise paradox ist.
Warum ist das paradox?
Eidinger: Weil der Moment nicht stillsteht. Jeder Augenblick, der vergangen ist, ist tot. Leben heißt Bewegung. Ich finde es einen tröstlichen Gedanken, dass das, was sich bewegt, lebt, und dass das, was steht, tot ist. Deswegen umgibt den Versuch, etwas festzuhalten, immer ein morbider Charme, ein Memento mori. Ich vergleiche das mit der Erotik oder der Sinnlichkeit, die mit der Geste verbunden ist, Topfpflanzen oder einen Strauß Schnittblumen zu schenken.
Eine Topfpflanze erhebt den Anspruch auf immerwährendes Leben, während die Schnittblumen schon vergangen sind. Aber ewiges Leben widerspricht dem Leben, das seinen Sinn erst durch den Tod erfährt. In der Endlichkeit liegen die Schönheit und der Wert des Lebens im wahrsten Sinne des Wortes begraben.
Wenn Sie aber daran denken, dass der Tod ständig präsent ist, müsste Ihnen das Angst einflößen. Zumal Sie sich um Ihre Familie Sorgen machen müssten.
Eidinger: Ich versuche, damit meinen Frieden zu machen. Letztlich geht es bei dem ganzen Thema um Zeit. Ein guter Freund von mir hat einmal gesagt, man solle nicht über Zeit nachdenken, da würde man verrückt. Zeit lässt sich nicht erfassen, wir können sie nicht begreifen. Man darf sich Zeit nicht als Linie vorstellen, sondern als Punkt. Und genau deshalb versuche ich eben, im Moment zu leben, weder auf etwas vor mir zielend noch rückwärtsgewandt.
Können Sie eigentlich durch die künstlerische Arbeit dem Tod ein Schnippchen schlagen? Ein Film mit Ihnen könnte ja in hunderten von Jahren noch präsent sein.
Eidinger: Nein, denn sie ist eben auch nur eine Momentaufnahme. Wir tun uns keinen Gefallen, indem wir denken, wir sind der und der und so bleiben wir unser Leben lang. Deshalb kann ich auch keine eindeutige Antwort auf die Frage geben, welchen Charakter ich in einem Film spiele. Man kann mich zwar auf Film aufnehmen, aber es entspricht nur dem Lars Eidinger in dem jeweiligen Moment. In der Zwischenzeit bin ich ein ganz anderer geworden. Wenn ich einen Film oder ein Foto ansehe, dann ist das also etwas Vergangenes. Denn Persönlichkeit ist eben etwas, was sich bewegt, sodass man im besten Fall jeden Morgen als jemand anderes aufwachen kann. Man hat schließlich auch den Anspruch, sich selbst zu verändern und in gewisser Weise flexibel zu bleiben, was die eigenen Ansichten und Meinungen angeht.
Doch ist ständiger Wandel nicht auch etwas erschreckend?
Eidinger: Nein. Das Problem ist eher umgekehrt, dass die Leute unverbesserlich werden, woran gerade die aktuellen Debatten kranken. Die Teilnehmer:innen gehen mit einer festen Meinung in eine Diskussion hinein und haben gar nicht mehr den Anspruch, sich vom Gegenüber überzeugen zu lassen oder das Gegenüber zu überzeugen. Vielmehr werden Debatten unter Kriterien wie Sieg und Niederlage geführt. Nach dem Motto: „Ich habe die besseren Argumente gehabt, deshalb gehe ich als Sieger hervor.“ Aber das Ziel eines Gesprächs müsste sein, entweder das Gegenüber zu überzeugen oder sich überzeugen zu lassen. In der Leica Galerie Salzburg gibt es eine Fotoausstellung von mir mit dem Titel „Black & White Thinking“. Das ist in der Psychologie eine Beschreibung für kognitive Verzerrung und die Tendenz, in Extremen zu denken, das heißt, die Welt nicht so zu sehen, wie sie ist, nämlich komplex, widersprüchlich und nuanciert. Das ist das Phänomen, das uns als Gesellschaft entzweit.
Gibt es denn eine Konstante in Ihrer Persönlichkeit?
Eidinger: Ich habe mit dem Künstler John Bock „Peer Gynt“ an der Schaubühne gemacht, und er hat über mich gesagt: „Lars Eidinger ist sein eigenes Gegenteil.“ Damit kann ich etwas anfangen. So würde ich mich beschreiben. Oder ich kann auch den Besitzer meines Stammcafés in Berlin zitieren. Ich musste mir einmal für eine Filmrolle die Haare abschneiden und war unglücklich, weil für mich lange Haare für eine bestimmte Attitüde stehen. Da sagte er zu mir: "Nur wer sich verändert, bleibt sich treu." Das könnte man als Credo nehmen. Von der Elterngeneration kenne ich noch die Formulierung: "So bin ich halt." Aber ich möchte eben als Charakter nicht stillstehen. Wenn ich ein starrer Charakter bin, dann prallt alles an mir ab. Aber die Qualität des Lebens ist, dass man durch die Eindrücke und die Erfahrungen und Erlebnisse in seiner Persönlichkeit beeinflusst wird.
Sechs Jahre lang haben Sie Persönlichkeit auch über Ihr Instagram-Account vermittelt, das Sie jetzt gelöscht haben. Vermissen Sie das?
Eidinger: Im Gegenteil, es ist eine absolute Befreiung. Es ist eher so, dass man denkt: Wieso hat man so lange daran festgehalten? Ich habe nach wie vor ein großes Bedürfnis, meine Bilder zu teilen, aber ich mache das jetzt persönlich. Ich gehe zu Menschen in meinem Umfeld und zeige ihnen die Fotos auf meinem Handy. Es ist dann ein ausgewählter Kreis von Leuten, die ich kenne und von denen ich weiß, dass sie mir zugetan sind, und deren Meinung mir etwas bedeutet.
Andererseits gehört es zu Ihrem Beruf, dass Sie ins Rampenlicht treten.
Eidinger: Es ist generell bei Künstler:innen der große Konflikt, dass man sich exponieren und zeigen muss und dabei Gefahr läuft, getroffen oder verletzt zu werden. Aber wenn ich nicht bereit bin, mich verletzen zu lassen, dann hat mein Spiel keine Intensität. Man kann als Künstler:in keine Wirkung erzielen. Nächstes Jahr erscheint eine Dokumentation über mich, in der mein Schauspielkollege Gustav Peter Wöhler von mir sagt, ich wäre waidwund. Als waidwund beschreibt man ein angeschossenes Tier, das verletzt herumirrt. Das fand ich eine treffende Beschreibung.
Fühlen Sie sich denn selbst waidwund?
Eidinger: In gewissen Momenten, ja. Auf der Bühne fühle ich mich auf jeden Fall nicht sicher. Ich lasse mich auch verletzen und treffen. Darüber entsteht Empathie seitens des Publikums. Die Zuschauer:innen projizieren ja immer das Schicksal der Figur auf sich. Wenn ich mich verletzt zeige, erkennen sie ihre eigene Verletzung in mir. Indem sie mitleiden, finden sie das eigene Leid widergespiegelt.
Die Dokumentation über Sie heißt "Sein oder Nichtsein". Warum dieser Titel?
Eidinger: Weil das die essenziellste Frage ist. Sie ist nicht einfach zu übersetzen mit „Leben oder Sterben“, sondern es geht ums Dasein. Hamlet fragt: Warum handle ich nicht? Wovor habe ich eigentlich Angst?
Haben Sie denn den Mut, sich gegen eine "See von Plagen" aufzulehnen, von der Hamlet spricht?
Eidinger: Ich stecke genau in dem Dilemma. Es gibt zwar eine Sehnsucht des Menschen, eine Antwort darauf zu finden, aber die Antwort auf "Sein oder Nichtsein" ist "Sein oder Nichtsein".
Aber spüren Sie nicht einen Widerstandsgeist in sich, mit dem Sie gegen bestimmte Dinge rebellieren?
Eidinger: Ja klar. Man hat ja schon auch seinen Wertehorizont, an dem man alles misst und nach dem man sich richtet.
Was löst denn Widerstand bei Ihnen aus?
Eidinger: Ich habe ein Projekt zu Piet Mondrian für die Fondation Beyeler gemacht, der in seinen Texten sehr interessante Gedanken formuliert hat. Zum Beispiel, dass alles, was trennt, aufhört zu sein. Das finde ich spannend und erst mal nicht so leicht zu verstehen.
Letzteres könnte man so sagen.
Eidinger: Dahinter steht der Gedanke, dass Trennung die Bewegung einschränkt. Und Bewegung wiederum beschreibt eben das Leben. Der letzte Satz von "Hamlet" müsste richtig übersetzt heißen: "Und der Rest ist Stille." Stille wiederum heißt Stillstand. Stillstand wird durch Trennung und Begrenzung verursacht. Aber das Schöne am Leben ist, dass es immer in Bewegung bleibt.
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