

Spezialität in Schweden
Selbstversuch: Wie schmeckt der stinkende Fisch Surströmming?
Bei den gefürchtetsten Lebensmittel der Welt steht der Surströmming ganz oben. Warum lieben die Schweden den gegorenen Hering? Eine Verkostung im Selbstversuch.
Dieser Bericht ist eine Warnung. Wer jetzt noch an Katthult und Bullerbü glaubt, an ein Småland, in dem vor roten Holzhäusern genauso rotbäckige Kinder, die Pippilotta und Michel heißen, auf Limonadenbäume klettern und Zimtschnecken essen, wer das also glaubt – liest hier besser nicht weiter. Denn hoch oben im Norden gibt es eine Delikatesse, die gegen jede Idylle, pardon, anstinkt: der Surströmming. Ein Hering in der Dose. Monatelang muss dieser Fisch in Fässern reifen, in Salzlake vor sich hin fermentierten. Sprich: Gären.
Diesen Fisch dann zu verkosten, ist auf Youtube und TikTok längst eine Sportart: Na, wer traut sich an den Stinkefisch? Da filmen sich muskulöse Bundeswehrsoldaten, die nach dem ersten Happen nur noch japsen und Tränen vergießen. Trachtler in Lederhosen, die am Fisch schnuppern, bis ihnen das Leben aus dem Gesicht weicht und sie …, nun ja …, ihr Innerstes nach außen kehren. Selbst das Dschungelcamp von RTL kommt auf den Geschmack. Pürierter Surströmming? Ist fester Teil des Happy Meals bei den Essensprüfungen.
Nur kenne ich eben auch die andere Seite: Ich weiß, dass Schweden und Schwedinnen, die zu meinen Freunden zählen, in jedem Sommer die Surströmming-Premiere wie ein Fest feiern. Am dritten Donnerstag im August, nach einer alten königlichen Verordnung. Fröhlich, froh den Fisch verdrückt. Also musste dieser Tag auch für mich einmal kommen, als Hobby-Schwedin musste ich einmal in den sauren Fisch beißen. Ein Selbstversuch.
„Ach so schlimm ist es ja nicht“ – den Satz werde ich nie wieder vergessen
Im Garten meiner Eltern hat sich eine kleine Runde versammelt, drei Männer von über 70 Jahren starren auf eine schwedenrote Dose Hering. Da ist: Reiner, Handwerker im Ruhestand, mit gesundem Appetit und grauem Bart gesegnet, er hat schon auf Reisen des örtlichen Anglervereins Kawenzmänner von Fischen aus Norwegens Wassern gefangen. Außerdem: Gerhard, pensionierter Lehrer für Mathematik und Physik und deshalb von Natur aus Skeptiker. Er hat den Fisch schon einmal gekostet und wollte ein zweites Mal strikt verweigern – aber die Neugier gewinnt.
Und schließlich: Mein Vater und ich. Gemeinsam haben wir viele Sommer in Schweden verbracht, sind mit Segelbooten über die Seen gedümpelt, haben uns dabei wechselseitig die Welt erklärt. Haben uns danach mit jedem Kanelbullar, jedem dieser köstlichen Zimtschnecken, auch ein Stück Liebe für dieses Land einverleibt. „Und wenn wir das hier überstehen, verlangen wir nach der schwedischen Staatsbürgerschaft“, scherzen wir jetzt. Aber dann öffnen wir die Konserve: „Oskars Surströmming“. Mein Vater hält als erster die Nase über die Fischbrühe, wir gucken ihn erwartungsvoll an. Noch sagt er: „Ach, so schlimm ist das ja gar nicht!“ Aber er weiß noch nicht, dass sich die Duftwolke jetzt breitmacht.
Nicht nur ein Geruch, nein ein Dunst von Mythen kreist um diesen Fisch. Aber eben auch Fakten, die untermauern, wie sehr ihn die Welt fürchtet. Eine, nein sogar zwei den Globus umkreisende Passagierfluglinien haben ein Bann über den Fisch ausgesprochen: Transport an Bord nicht erlaubt. Weder bei British Airways noch bei Air France. Warum? Explosionsgefahr.
Manche Schweden schwören, dass der Fisch erst dann seine Reife erreicht hat, wenn sich die Dose wölbt. Und auch wenn Fälle von Surströmming-Explosionen nicht belegt sind, einmal wurde der Surströmming dennoch ein Fall für ein deutsches Gericht – also ein Gericht nicht auf dem Teller, sondern mit Richter und Anwaltschaft. Es war 1981 als eine Frau zu Weihnachten, wer weiß aus welcher Feiertagslaune, eine Kanne Surströmming-Saft im Flur eines Mietshauses verspritzte. Zu viel für die schwache Nase ihres Vermieters, er kündigte ihr fristlos – und beide trafen sich vor dem Kölner Landgericht. Das Urteil: „Dass der üble Geruch der Fischpökelbrühe das für die Mitbewohner des Hauses zumutbare Maß bei weitem übersteigt, davon hat sich die Kammer selbst überzeugt, als die Beklagten im Termin eine Büchse im Sitzungssaal öffneten.“
„Ach, so schlimm ist es ja nicht“ – diesen Satz werde ich nie wieder vergessen. Der Duft ist aus der Dose, der Fisch aus dem trüb braunen Salzwasser. Man sagt ja, der Fisch stinke vom Kopf, alte Redeweise. Aber dieser? Mit Leib und Seele. Wer nun an die Dosen mit Thunfisch in Tomatensoße denkt, der einen insgeheim an den Odeur von Katzenfutter erinnert, der kennt die maximale Härte nicht. Zu behaupten, dieser Fisch sei tot, ist eine Untertreibung. Der Geruch eines feuchten Kellers schlägt einem entgegen, wie der Fausthieb auf die Nase, dessen Wucht das Riechorgan erst Sekunden nach dem Aufprall spürt.
Was ist besonders am Surströmming-Hering?
Surströmming. Ein Lebensmittel, dem ein Ruf vorauseilt, noch übler als sein Geruch. Denn was sagen die Skandinavier selbst zum Fisch? Wie verteidigen sie ihr Traditionsgericht? „Drei Anläufe hab’ ich gebraucht, um diese Delikatesse genießen zu können“, schreibt mir Robert Berntsson. Das wundert mich, denn heute zählt dieser Mann zu den hartgesottenen Gourmets, mit einer Zunge aus Stahl, die für den vergorenen Hering Partei ergreifen. Er ist der Vorsitzende der Surströmming Akademien. Der Verein mit Sitz in Stockholm will das kulinarische Erbe pflegen, die Tradition um den Surströmming.
Berntsson weiß um die Herkunft, warum der Fisch gären muss. „Vor langer, langer Zeit war Salz bei uns im Norden sehr teuer. Aber dann fand ein Mann heraus, dass wenn er ein kleines bisschen Salz ins Fischwasser streut, sich das Mindesthaltbarkeitsdatum erhöht. Um ein Jahr und mehr.“ So fand der Ostseehering, der ausgewachsen und laichreif geangelt wird, seinen Weg auf die Teller von Malmö bis Jokkmokk.
Man sagt das ja über viele Gerichte, die für Nasen heute seltsam bis schwer genießbar riechen, aber hier stimmt es: Surströmming war ein Arme-Leute-Essen. „Sie konnten zwar frischen Hering angeln, mussten ihn aber über den Winter frisch halten, um die Familie zu ernähren.“ Frisch halten? Ich habe da meine Zweifel und misstraue seit meinem Surströmming-Test zumindest ein wenig dem Tipp der deutschen Verbraucherzentrale: „Ob Produkte noch genießbar sind oder nicht, lässt sich mit den eigenen Sinnen überprüfen: Sehen, Riechen und Schmecken – vertrauen Sie den eigenen Sinnen!“
Auf der Zunge liegt der Fisch nun wie ein nasser Waschlappen. Arglos, leblos, für eine Millisekunde. Bis eine Welle von salziger Wucht die Sinne überrumpelt. Erst dann, noch eine Sekunde später, denn der Fisch ist hinterlistig, entfaltet sich der einmalige Geschmack. Fäulnis. Verderben. Während wir mit etwas seekranker Miene über den Tellern hängen, fischt sich Reiner schon die nächsten Filets aus dem Sieb. Er lässt sie von den Fingern flutschen, per direkter Luftlinie in seinen Mund. „Ja, der muss ja weg“, sagt Rainer, „sonst wird er noch schlecht.“ Und jetzt müssen wir alle lachen. „Als Vorspeise ist das einwandfrei“, sagt er. Und auch Gerhard zeigt sich stark: „Die in Norwegen haben wir direkt aus dem Fass bekommen“, erinnert er sich. Und? Schmeckt’s jetzt? „Es ist halt sehr salzig.“
Ein Blick auf die Olf-Skala zeigt, womit man es hier zu tun hat
Für den perfekten Surströmming-Genuss empfiehlt Berntsson die Wrap-Variante, so wie wir sie anrichten: Die fermentierten Filets auf Fladenbrot drapieren, dann mit gehackten, rohen Zwiebel, Tomaten und saurer Sahne aufpeppen, einrollen – „und der Geschmack ist himmlisch“, findet der Fachmann. Aber vielleicht weiß der Schwede ja auch nichts von dem Sprichwort, dass etwas zum Himmel stinkt? Etwas muss da faul sein im Staate … – Schweden? Oder vielleicht sind wir ja plumpen Leberkäse-Gourmands, Banausen mit einem viel zu engen kulinarischen Horizont. Seien wir ehrlich, bevor wir auf andere zeigen: Wer erträgt schon frühmorgens den Duft eines Limburger-Käses? Oder von frisch aufgetischten Kutteln? Andere schüttelt es schon beim Anblick des Rollmops, wie er im Glas schwimmt. Das Verhältnis des Menschen zum Gestank, es scheint ohnehin ein absonderliches.
Lässt sich der Duftfaktor denn messen, frage ich mich, und finde bei der Suche: Olf. Klingt das nicht schon nach einem Schweden? Aber Olf, so heißt die Einheit, mit der die Wissenschaft die Intensität und Kraft eines Geruchs misst. Erkenntnisse aus der Olfaktometrie: Ein gewöhnlicher Raucher verströmt im Schnitt 25 Olf. Ein Jugendlicher von zwölf Jahren produziert eine 12 auf der Olf-Skala und bei einem Athleten schnellt das Olfaktometer auf 30. Ole Fanger – ein Däne, wen wundert es – hat diese Maßeinheit 1988 definiert. Er hat die Reaktion von Testpersonen auf Geruchsreiz geprüft, in Innenräumen. Ein Olf, das entspricht der Verunreinigungslast der Luft durch eine Standardperson – „einen gesunden Erwachsenen bei behaglicher Raumtemperatur mit einem Hygienestandard von 0,7 Bädern pro Tag bei sitzender Tätigkeit“.
Wir sitzen nach der Verkostung bei ein, zwei Schnäpsen beisammen – die Schweden empfehlen zum Fisch Aquavit, wir wählen Birne. Meine Mutter schleicht um die Runde und weiß nicht, ob sie lachen oder die Nase rümpfen soll. „Riecht wie im Tierpark Hellabrunn“, sagt sie und reicht den Männern nun Teller mit Köttbullar und Kartoffelbrei. Um auf einen anderen Geschmack zu kommen. An diesem Tag werde ich meinen Händen noch mehrere Waschgänge gönnen, immer wieder mit der Zahnbürste gegen den Schock im Mund anschrubben. Aber der Fisch ist anhänglich. Der Duft verfliegt, doch die Erinnerung an den Geschmack liegt einem wie Blei auf der Zunge, er begleitet mich bis in die Nacht.
Und ich frage mich: Warum nur? Oder schwedisch: „Varför?“ Ist es diese diebische Freude, den Geist aus der Flasche zu lassen, den Duft aus der Dose? Entfaltet der Fisch Kräfte, hat er bewusstseinserweiternde Wirkungen und wir haben sie nur nicht gespürt? Kann das nur einer ertragen, der in der Mittsommersonne bis Mitternacht tanzt? Es bleibt ein Rätsel, alter Schwede. Aber vielleicht testen wir das noch einmal, nächstes Mal. Denn Schwede und Schwedin wissen: Beim dritten Mal schmeckt’s.

Sicherheitsvorkehrungen
- Kein Schwede würde jemals in geschlossenen Räumen eine Dose dieses Fisches öffnen. Suchen Sie sich ein Plätzchen an der – noch – frischen Luft. Seien Sie fair und warnen Sie auch Ihre Garten-Nachbarn vor.
- Experten wie Robert Berntsson empfehlen, die Dose nicht an der Luft zu öffnen, sondern unter Wasser, in einem Eimer. Sonst schwappt die Suppe über oder spritzt sogar.
- Das Filet abzuspülen lindert die Wucht. Denn beim Verzehr aus der Lake direkt in den Mund – Anfängerfehler! – erhöht sich der Fäulnisfaktor im Geschmack.
- Auch ein paar haushaltsübliche Gummihandschuhe helfen dabei, dass die Finger nicht noch Tage lang nach Surströmming duften.
Zubereitung
- Grundrezept: Für zwei bis vier mutige Personen sollte eine halbe Dose Sürströmming, mit zehn bis zwölf Filets genügen. Die Beilagen Kartoffeln und rohe Zwiebeln.
- Variationen: Der Surströmming-Schock lässt sich mildern, wenn man den Fisch in einen Wrap hüllt. Da bietet sich das Tunnbröd an, ein nordisches Fladenbrot, dass es in harter und in weicher Variante gibt. Es ist schnell selbst gebacken (oder bei Ikea gekauft). In Tunnbröd legt man den Fisch, die Kartoffeln, die Zwiebeln, dippt alles mit Crème fraîche oder Sauerrahm, verfeinert mit Tomate, Dill oder – typisch schwedisch – Preiselbeeren. Weitere Rezepte präsentiert die Surströmming Akademie auf ihrer Internetseite www.surstrommingsakademien.se
