Die Macht der Sehnsucht: Gefahren für die Liebe und gelingende Beziehungen
Die Liebe - wird gefeiert zum Valentinstag, bürgt für Millionenhits in Roman, Film und Serien. Aber was hat das mit der Wirklichkeit zu tun? Eine Erkundung des Fühlens heute.
Was für ein schönes deutsches Wort: Sehnsucht. Darin klingt zuerst dieses Dehnen, das Ausstrecken in Denken und Fühlen über alle Grenzen in Zeit und Raum hinweg – denn das Sehnen kann in Vergangenheit und Zukunft, ans andere Ende der Welt, sogar über den Tod hinausreichen. Klingt wie ein Zauber. Aber dann kommt die Sucht dunkel mahnend hinzu, auf die sich nicht zufällig die Flucht reimt, aus der Gegenwart und der Wirklichkeit nämlich, zu der dieses Sehnen werden kann. Und doch: Die Sehnsucht ist wohl die einzige Sucht, die wie etwas Schönes wirkt. Zunächst einmal.
„Ohne Sehnsucht gibt es keine Geschichte. Die Sehnsucht ist der Motor, der die Geschichten antreibt.“ Das ist das Erste, das Nathalie Weidenfeld sagt. Das Grundlegende. Und doch zeigt sich darin schon, um wie viel es hier geht. Denn zunächst sagt die in München lebende Kulturwissenschaftlerin und Buchautorin damit zwar etwas über ihr Fachgebiet, die Welt der Filme – aber zugleich greifen die Sätze unweigerlich weiter aus. Sie sagt: „Die Helden oder auch Antihelden sind gefangen zwischen verschiedenen Identitäten – und sehnen sich danach, die Identität, die sie haben, aufrechtzuerhalten oder eine andere zu erhalten.“
Aber ist das nicht auch die Dramaturgie des Lebens von uns allen? Wer wir sind und wer wir sein wollen – davon lässt sich doch durch unsere Sehnsüchte erzählen. Zwischen Sicherheit und Freiheit, Wohlstand und Abenteuer, Intensität und Geborgenheit , zwischen Originalität und Dazugehören… Vielleicht ließe sich gar der Mensch in seiner Geschichte überhaupt treffend beschreiben als: das sehnsüchtige Wesen. Nach Fortschritt und Macht, nach Erkenntnis und Erfüllung, nach Sinn und Rausch, nach Vernunft und Freiheit …– alle Widersprüche inbegriffen. Denn bauen nicht auch Politik und Religion wesentlich auf Sehnsüchten? Wer wir als Einzelne, in Gesellschaften wie als Spezies dann tatsächlich werden, das offenbart mitunter abseits der Geschichte, die wir uns von uns selbst erzählen, welche Sehnsüchte uns wirklich prägen. Ein weites Feld, mit tiefem Grund also.
"Fifty Shades of Grey" und "Twilight": unterbewusst Sehnsüchte, kindliche Muster
Was aber ist nun die Sehnsucht, die für diese Geschichte hier den Motor darstellt? Die Heldinnen, das sollen die Liebe und das Glück sein – und ihre Heldenreise soll zur Erkenntnis führen, was sie wirklich sind. Klingt ein bisschen kitschig? Aber bitte: Am 14. Februar ist Valentinstag, Konsumhochfest eines längst global wirkenden Blümchen-Herzchen-Kults! Was das mit Liebe zu tun hat? Leider ziemlich viel, könnte man sagen, am Beginn dieser Reise. Denn darin zeigt sich die Macht der Sehnsucht in ihrer kommerziell erfolgreichsten Form.
Nicht ganz zufällig jedenfalls erscheinen an diesem Herzchenmontag auch zwei Bücher. Das eine ist ein Bestseller aus den USA in deutscher Übersetzung mit dem hübschen Titel „Die theoretische Unmöglichkeit von Liebe“ von Ali Hazelwood (Rütten & Loening, 443 S., 16,90 Euro). Das andere ist ein Sachbuch vom deutschen Paarberater Christian Thiel, heißt „Generation beziehungsstark“ und verspricht Aufklärung über nichts weniger als: „Wie wir in Zukunft lieben werden“ (Herder, 224 S., 20 Euro). Und demnächst erscheint auch Neues von Natalie Weidenfeld, geschrieben mit ihrem Mann, dem Philosophen Julian Nida-Rümelin, betitelt: „Erotischer Humanismus“ (Piper, 240 S., 24 Euro). Fachfrau also.
Aber zunächst, zum Beginn der Reise von Liebe und Glück, zur Sehnsuchtsgeschichte, zum Roman von Ali Hazelwood, eigentlich Professorin für Neurobiologie. Denn die titelgemäß unwahrscheinliche Liebe, sie wird darin nicht einfach nur zufällig von einer jungen, sehr talentierten Biologin eben doch gefunden. Jene Olive ist zudem halt ein durch Schicksalsschläge eher einsames, aber sehr gutherziges Wesen, mit Mitte 20 praktisch noch jungfräulich und ziemlich mittellos. Der Mann aber, an den sie durch schicksalhafte Zufälle gerät, Adam, ist knapp zehn Jahre älter, ein (in wirklich jeder Hinsicht) körperlich großer und charakterlich dunkel wirkender Mann, der an der Universität als „feindselig und unnahbar“ gilt, gefürchtet und gehasst, aber ein Genie. Und dass nun ausgerechnet diese beiden zueinanderfinden, ist: das Wunder der Liebe?
Nathalie Weidenfeld würde eher sagen, das ist: interessant. Denn es zeige sich darin eine vielsagende Diskrepanz zwischen dem Bild von guten Beziehungen im „offiziellen Diskurs“ mit einem Geschlechterverhältnis auf Augenhöhe einerseits – und den unbewussten Sehnsüchten, die in solchen Liebesgeschichten angesprochen würden und sie zu den erfolgreichsten unserer Zeit machen. Bis hin zur SM-Erotik statt einer „sauberen“ Partnerschaft ohne Machtspiele, siehe „Fifty Shades of Grey“. Weidenfeld: „Es ist sichtlich so, dass Geschlechterbeziehungen eben sich nicht konform zu den glatten Vorstellungen verhalten, sondern Paare sich durchaus mehr Ambiguität und Machtspiele wünschen, beziehungsweise dass dies zur Realität der Geschlechterbeziehung gehört. Wenn’s glücklich macht! Die Identitäten unserer Heldinnen jedenfalls werden vieldeutiger, unklarer. Aber ist das ein Problem?
"RomCom" und Co.: Serien versetzen uns zurück in die Orale Phase
Weidenfeld zeigt es am Beispiel der abermillionenfach verbreiteten „Twilight“-Saga. „Hier wird die regressive Fantasie schlechthin befördert: ewiges Glück, die ewige sexuelle Erfüllung, ewig jung bleiben, man muss nicht arbeiten … Hier zahlt niemand für irgendetwas einen Preis, alles kann erfüllt werden.“ Regressiv bedeutet: die „Sehnsucht nach der Rückkehr in einen kindlichen Zustand“. Ganz ohne die Komplexität und Differenzen der Wirklichkeit als Erwachsener. Es sind, so Weidenfeld, die Sehnsüchte, die von jeher vorherrschend sind in den Bildwelten von Werbung, im digitalen Zeitalter über die sozialen Medien aber noch viel weiter in unsere Leben hineinwirken. Und das sei, so die dreifache Mutter, gerade wenn es wie hier auf Heranwachsende treffe, bedenklich: „Denn die Botschaft sollte sein, dass es für alles einen Preis gibt beim Erwachsenwerden – und dass man einfach nicht alles haben kann.“ Die Identität von Liebe und Glück, sie gerate ins Wanken. Und weiter.
Denn hinzu kommt eine weitere aktuelle Erscheinung, die mit Macht Sehnsüchte und dabei ein fatales Symptom nährt. Streaming-Serien. Weidenfeld: „Sie befördern das Muster einer infantilen Wunschbefriedigung, ein Ende ist immer nur der Cliffhanger für die Fortsetzung, es hört nie auf – und das wird zur Hauptsache. Dieses Unabgeschlossene fördert die Sehnsucht nach dem ‚Wie geht’s weiter‘. Als Selbstzweck. Es geht gar nicht mehr um einen Kern, eine Substanz einer kohärenten Geschichte, nur noch um die nächste Aufregung.“ Willkommen zurück in der oralen Phase der Vorstellung von Glück und Liebe – reines Nuckeln und Saugen. Aus der Sehnsucht ist eine Sehnsuchtsmaschine geworden, ein Suchtverhalten, abgekoppelt von der Realität.
Es ist, sagt Natalie Weidenfeld, die Entsprechung zu den Mechanismen des Kapitalismus, der ständig auf Sehnsüchte zielt. Aber eben: „Darum kann uns der Kapitalismus ja nicht glücklich machen, weil er immer neue Begehren wecken, es immer weitergehen muss.“ Warum sollte es ausgerechnet mit der Liebe anders sein? Eine existenzielle Krise unserer Heldinnen also. Nur noch Oberflächen der Selbstdarstellung und oberflächliche Bilder von Glück und Liebe. Natalie Weidenfeld sagt: „Es ist ganz schwer, sich da rauszuziehen.“
Höchste Zeit also für das zweite Valentinstagsbuch, das des Paarberaters. Kommt hier der Umkehrpunkt der Heldenreise, Reinigung, Rettung? Christian Thiels Werk jedenfalls ist eine Entgegnung auf ein anderes Buch, das seit einigen Jahren für Furore sorgt und ein Millionenpublikum gefunden hat: Michael Nasts „Generation Beziehungsunfähig“, inzwischen samt Fortsetzung und Verfilmung. Nast hat die Lage der Liebe in der gegenwärtigen Marktgesellschaft als verheerend beschrieben – Menschen zwischen Anfang 20 und Mitte 40, die andere via Tinder nach Attraktivität abchecken und dann bei den leisesten Komplikationen auf dem Weg zum nächsten Erfüllungskick weiterwischen. Nicht mehr eigentlich sehnsüchtig, sondern süchtig nach Sehnsucht – weil sie Intensität für das eigene Leben verspricht. Wahres Glück, wahre Liebe: tot.
In Thiels „Generation beziehungsstark“ nun steht, wie „Liebe in ihrem Kern zu beschreiben“ ist: „Sie besteht – aus Positivität. Füreinander da sein, anerkennende Worte, helfende Taten, eine Umarmung, weil sie gerade gebraucht wird, und ein tröstendes Wort, weil es noch viel nötiger ist. Das ist Liebe.“ Könnte auch auf einem Valentinstagskärtchen stehen. Aber beschreibt dann eben, ganz positiv, wie das gehen soll. Zu allererst sei dabei die Erkenntnis notwendig, dass die Liebe selbst einem Wandel unterliegt, eben kein ewiges Gefühl ist, das in eine Krise geraten ist und darum das Glücksversprechen nicht mehr erfüllen kann.
Es ist eben nicht einfach ein Zurück zu der einstigen Verbindlichkeit im Zueinander-Ja-Sagen, wie es Michael Nast in „Generation Beziehungsunfähig: Die Lösungen“ dann nachgeliefert hat. Vielmehr zeichne sich eine neue Form des Liebens ab, für die heute Zwölfjährigen, die der Autor beispielhaft nimmt: „Die Generation beziehungsstark wird neu über das Geschlechterverhältnis nachdenken – und zu besseren Lösungen finden. Sie wird über die Probleme nachdenken, die Kritik am Partner für Beziehungen nach sich zieht. Sie wird lernen, das Wesen der Untreue besser zu verstehen. Sie wird begreifen, dass Liebesmythen uns den Blick auf die Realität verstellen und dass nicht nachlassende Neugier auf den Partner oder die Partnerin eine der wichtigsten Zutaten für das Glück in der Liebe ist.“ Und: „Sie wird dabei von den Forschungsergebnissen der Psychologie in den vergangenen Jahrzehnten profitieren.“ Mit einem Wort, das Thiel hier über gut 200 Seiten in seiner Bedeutung beleuchtet („Intimität entsteht durch Nachfragen“, „Lernen, vor der eigenen Haustür zu kehren“, „Gedanken steuern unsere Gefühle“) – die neue Form der Liebe wird zumeist eine Lebensabschnittsliebe sein und sie wird gelingen durch: Kompetenz!
Aus zwei Gründen hat "die Liebe im 21. Jahrhundert eine große Zukunft"
Es gilt also, kompetent im Umgang mit den eigenen Sehnsüchten zu werden, auch nicht süchtig nach dem realitätsfremden Sehnen. Thiel meint, das dürfe aber nicht nur eine Aufgabe jeweils zweier Menschen bleiben. Weil es von mehr abhängt, von der Gesellschaft, die zu einer Entwicklungsgemeinschaft von Liebe und Glück werden müsse. Unterstützt auch von der Wissenschaft, aber auch der Politik. Angesichts der Möglichkeit, in einer zunehmend automatisierten Zukunft weniger arbeiten zu müssen, gelte es, Freiräume für die Arbeit an der Liebe zu gestalten. Es gehe schließlich um das Wichtigste im Leben. Lasst uns also alle zusammen Glück und Liebe auf ihrer Reise retten? Dann jedenfalls, so Thiel, habe „die Liebe im 21. Jahrhundert eine große Zukunft“. Nötig scheint es zudem: „In einer Welt, die sich schneller und schneller dreht, in der sich wirtschaftliche und technologische Änderungen in rasendem Fortschritt ausbreiten, in so einer Welt gibt die Liebe den Menschen mehr Halt denn je.“ Worauf wir also setzen müssen: Fortschritt und Gleichberechtigung. Ein Happy End für die Liebe?
Nathalie Weidenfeld wählt kleinere Worte, die aber auch von einem notwendigen Wandel im Umgang mit unseren Sehnsüchten zeugen. Beispielhaft zunächst im Film: Kim Ki-Duks „Frühling, Sommer, Herbst, Winter …und Frühling“. Darin geht es um die Konsequenzen des eigenen Handelns – und vor allem die Sehnsucht nach innerer Freiheit: „Mit dem Jetztzustand zufrieden sein und auf die Welt eingehen, ohne getrieben zu sein“ – das sei zwar ein Ideal, denn „solange wir leben, werden wir immer von einer Sehnsucht getrieben sein“. Aber sich in einer Zeit, in der die Inszenierung des Außergewöhnlichen, das melodramatisch Hochgeputschte Konjunktur habe, auf den unzeitgemäß scheinenden Wert der Zufriedenheit zu besinnen, das könnte helfen: „Man freut sich an Schönem, ist aber nicht süchtig danach, etwas zu erleben und besitzen.“ Was abstrakt klingen mag, kennt die Wissenschaftlerin aus persönlichem Erleben, von ihrer Oma: „Eine sehr zufriedene Frau, die mit wenig auskam, die eine innere Ruhe hatte – und Zufriedenheit, gepaart mit einer Neugier auf die Welt, die aufrechterhalten blieb bis zuletzt …“ Klingt doch wie ein Happy End des Glücks für das Sehnsuchtswesen Mensch.
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