"Floating Piers": Einmal zu Fuß über den See
Die "Floating Piers" auf dem Lago d’Iseo sind spektakulär. Zu den Besonderheiten gehört, dass die stoffbespannten Stege keineswegs nur visuell zu erleben sind.
Ingenieure verändern Landschaften. Sie bauen Stauseen, sprengen Berge weg, bohren Tunnels durch Gestein, spannen Brücken über Täler, leiten Flüsse um, planieren Wälder. Künstler verändern Landschaften ebenso. Doch diese Eingriffe sind anders. Künstler schaffen Bilder auf Zeit. Sie zerstören nicht, sie erfinden Landschaftsbilder. So wie Christo, der am Lago d’Iseo in Norditalien ein visionäres Werk realisiert hat, das nun für zwei Wochen als ein begehbares Panorama, als eine große poetische Installation Hunderttausende anziehen wird.
"Floating Piers": Menschen, die über Wasser gehen
Augenfälliger als an diesem See kann die Macht und die Kraft von Kunst nicht sein. Was Christo – zusammen mit seiner 2009 gestorbenen Partnerin Jeanne-Claude – einst mit dem Zeichenstift auf Papier entworfen hat, lässt jetzt Menschen über Wasser gehen. Dazwischen liegen Jahrzehnte beharrlichen Glaubens und Arbeitens. Die Floating Piers: Das ist ein Gemälde mit safrangelben Bahnen. Der 16 Meter breite Pinselstrich aus Stoff malt Stege über den See, zeichnet die Umrisse einer großen Insel nach, setzt eine kleine Insel in ein leuchtend orangefarbenes Quadrat. Das Fantastische, Gestische verbindet sich mit der Liebe zur Geometrie. Christo schafft neue Konturen, er verändert das Landschaftsbild, verzaubert das Zauberhafte – und schafft Zugänge in dieses Landschaftsbild, die aus dem Bildgedächtnis unserer Zeit nicht mehr verschwinden werden. So wie der verpackte Berliner Reichstag (1995) ein Nachbild bleibt, auch wenn die Stoffbahnen dort längst verschwunden sind.
Christos Installation, die aus dem gleichen Stoff besteht wie seine Fahnentore von „The Gates“ im Central Park in New York, ist eine kühne Hommage an die Natur und ihre poetische Neuvermessung. Die Piers, die er über den See geschlagen hat, schwimmen und bewegen sich im Wellenschlag des Iseosees. Keine Geländer, keine Gitter, keine Absperrseile – nur die auf schwimmenden, am Seegrund verankerten Kunststoffquadern gespannten Stoffbahnen. Am Eröffnungstag laufen die Leute über den See wie auf einem Farbstrahl. Das Werk erschließt sich über die Bewegung und die wechselnden Perspektiven und Blicke, durch die sich jeder Einzelne das leuchtende Orange immer anders inszeniert und vor Augen führt. Kilometerweit geht es auf dem Weg, den Christo am und in den Lago d’Iseo gezeichnet hat. Der schwimmende Pier bewegt sich in Kontraktionen wie eine Schlange, die eine Maus verschlingt. Es ist eine Volksfeststimmung in Sulzano am Ostufer des Sees. So puristisch die Installation ist, so gigantisch ist der Eventcharakter, der um das Projekt wogt. Die Floating Piers sind ein Bild, das erlaufen wird.
Es ist voll, aber es fließt. Viele Besucher gehen barfuß über die Stege und die mit Stoffbahnen ausgelegten Uferwege. Erfahrbar ist das Christo-Werk nicht nur visuell. Da ist auch das Schaukeln der wie ein aufgeklappter Zollstock in den See gespreizten Piers, zudem das haptische Erlebnis, den Stoff unter den Füßen zu spüren und auch den See. So entsteht eine Prozession des stillen Staunens, eine Mischung aus Andacht und Picknick. Niemand fällt ins Wasser – die vielen Helfer in ihren roten Schlauchbooten müssen nicht eingreifen.
"Bravo Christo, bravo!"
Immer wieder brandet Applaus auf am Eröffnungssamstag, an dem Christo auf einem Boot, das aussieht wie eine schwimmende Bühne, unermüdlich sein Werk abfährt. „Bravo Christo, bravo!“ rufen die Leute, und: „Grazie, Christo!“ Der Künstler in der roten Wanderjacke und mit schlohweißem Haar, das im Gegenlicht wie ein Heiligenschein wirkt, winkt zurück – und gibt das nächste Interview, spricht in das nächste Mikrofon. Der 81-Jährige hat ein Bild in die Welt gesetzt, das in den Augen und Erinnerungen von Millionen fortleben wird. Once in a lifetime, einmal im Leben – die zeitliche Begrenzung, die Vergänglichkeit der Installation, die nur bis 3. Juli zu sehen bleibt, ist Teil der Magie.
Die Stoffbahnen verändern sich, die Floating Piers sind kein statisches Werk, sondern ein changierendes, immer anders schimmerndes und das Licht reflektierendes Bild. Der Wellengang am Freitagabend, als ein heftiges Gewitter niederging, hat Äste, Blätter, Schwemmgut an die Ränder der Stoffbrücken gespült. Dort, wo der Stoff nass ist, ist er viel dunkler als an den getrockneten Stellen. Faltenwurf und Fußabdrücke gestalten Oberfläche und Textur immer neu. In der Sonne erscheinen die Piers mal wie Sanddünen, mal wie ein goldenes Vlies. Das Stoffquadrat um die kleine Isola di San Paolo schafft neue Plätze im See. Die Perfektion, mit der der safrangelbe Stoff sich um alles schmiegt, ist überall zu sehen. Ein Olivenbaum, Sitzbänke, Hausecken – das alles ist eingefasst, so wie es der Parkettleger mit Heizungsrohren macht.
Am Samstagabend müssen die Floating Piers für eine gute Stunde gesperrt werden, weil der Wind zu stark ist. Christo vertraut sein Bild der Natur an. Größer kann Kunst nicht sein.
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