
Dürrenmatts „Physiker“ bekommen einen neuen Dreh


Das Münchner Volkstheater inszeniert Dürrenmatts Theaterklassiker als ein Erschrecken der anderen Art.
Es ist schon erstaunlich, mit was für einem Tempo sich die Welt verändert. Und wahrscheinlich haben die meisten ein unheimliches Gefühl dabei, weil niemand absehen kann, wo das endet. Genau um diese Frage kreist Friedrich Dürrenmatts moderner Theaterklassiker „Die Physiker“. Ist es möglich, einen Gedanken, eine Erfindung ungeschehen zu machen?
Das Münchner Volkstheater hat die Komödie auf die Bühne gebracht. Ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung verzichtet der Regisseur Abdullah Karaca bewusst auf Aktualisierungen – Handys, Smartphones, das ganze Computerzeitalter bleibt ausgeblendet. Das Schweizer Sanatorium, in dem sich der Physiker Möbius versteckt hält, und die anderen Figuren haben der Bühnenbildner Vincent Mesnaritsch und die Kostümbildnerin Elke Gattinger in eine Art-déco-Wohlfühloase versetzt, in der Krankenschwester-Morde leichter weggelächelt werden können. Es geht optisch zurück in eine gute alte Zeit, als die Angst vor der Zukunft noch klar überschaubar war.
Die Schreckensvision einer durchgeknallten Ärztin
Mit diesem Dreh bekommt das Stück eine andere Dringlichkeit. Rückte Dürrenmatt noch in den Blick, wie aberwitzig und gefährlich die technischen Neuerungen des Atomzeitalters waren und wie wenig der einzelne Wissenschaftler sich gegen diese Entwicklung stemmen kann, bekommt die Komödie in Karacas Inszenierung eine neue Bedeutung: Früher war es noch eine Schreckensvision, dass eine durchgeknallte Ärztin privatwirtschaftlich die wissenschaftliche Superformel kapitalistisch ausbeutete, heute ist das die Realität – man muss nur auf die Forschungsetats der Tech-Konzerne schauen. An Friedrich Dürrenmatts Schreckensvision hat man sich längst gewöhnt; die neuen Techniken kommen mit solch einer Vehemenz, dass niemand mehr auf die Idee von Widerstand kommt.
Zum Vibrieren gebracht wird das durch Schauspielkunst sowie klug und gezielt eingesetzte Komik. Es darf gelacht werden, ja, aber der Text wird nicht weggewitzelt. Die beiden Agenten im Irrsinnsmantel (Mauricio Hölzemann und Vincent Sauer), der Inspektor von der enttäuscht-entsetzten Gestalt (Pascal Fligg) und die Oberschwester (Luise Deborah Daberkow) bringen Witz und Wahnsinn zusammen. Der geniale Möbius (Jakob Immervoll) lässt den Ernst des Themas aufscheinen, die Krone setzt diesem fein austarierten Theaterabend Carolin Hartmann als Mathilde von Zahnd auf. Die Leiterin des Sanatoriums kann Diva, sie kann aber auch Furie, sie weiß, was Krokodilstränen sind, und verabschiedet sich im Größenwahn. Starker, langer Applaus im Münchner Volkstheater.
Termine am 28., 29. Mai, am 8., 14., 20. Juni sowie am 2. und 10. Juli
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