Kopfarbeiter
Der fordernde Dirigent Michal Gielen ist 91-jährig am Mondsee gestorben
Wer unter ihm musizieren durfte, zumal als junger Mensch, der musste schwer auf der Hut sein: Seine Einsätze kamen oft hart, direkt, nicht vorbereitet, nicht atmend. Sein Anliegen war demgemäß auch nicht das Emotionale, das (vordergründig) Erregende im Konzert- und Opernrepertoire zwischen Bach und Bernd Alois Zimmermann, nicht das potenziell Schwärmerische, Entrückte, Harmoniefreudige, Idyllische von Musik, sondern die helle, präzise, sachliche Darstellung des potenziell visionären, ja utopischen Moments großer Kunst – trennscharf entwickelt aus den kompositorischen Strukturen, die zu durchschauen ihm als Tonsetzer im Nebenberuf nicht schwerfiel.
Aber weil er als kritischer Kopf selbst dem utopischen Moment großer Kunst misstraute, war der Dirigent Michael Gielen, 1927 in Dresden geboren, prädestiniert, eine Komposition auch auf ihre Integrität und Sinnhaftigkeit abzuklopfen – um diese in der Folge angemessen darzustellen. Viele musikalische Großtaten konnte Gielen so für die Musik, für die Philosophie, ja die Menschlichkeit (und für sich) verbuchen – angefangen bei der erst einmal durchzusetzenden Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“, diesem epochalen Werk des 20. Jahrhunderts (Köln, 1965), nicht endend mit jenem Frankfurter Konzertprogramm, als er das menschheitsverbrüdernde Finale aus Beethovens neunter Sinfonie („Ode an die Freude“) mit Schönbergs Auschwitz-Kantate „Ein Überlebender aus Warschau“ kombinierte.
Jetzt aber gilt für das Beschriebene: Es war gewesen. Michael Gielen ist am vergangenen Freitag 91-jährig an seinem Altersruhesitz am Mondsee gestorben. Und es überschlagen sich die Erinnerungen, Ehrungen, Nachrufe musikalischer Institutionen, wo er, der einstige Schüler von Erich Kleiber, leitend gewirkt hatte: Stockholm, Brüssel, Amsterdam, natürlich auch Frankfurt, dessen Opernhaus er zwischen 1977 und 1987 zusammen mit dem Chefdramaturgen Klaus Zehelein zu einem regional zunächst schwer angefeindeten Ort der Auseinandersetzung, in der Folge aber zu einer international beachteten Bühne geformt hatte, weil sich sein dialektisches Denken mit dem dialektischen Denken vieler Regisseure sachdienlich, analytisch verband.
Danach kam für Michael Gielen noch das SWF Sinfonieorchester Baden-Baden, das er bis 1999 verantwortlich leitete – und in dieser Zeit u. a. auch die Realisierung einer Salzburger „Lulu“, die zur besten Operninszenierung 1995 gekürt wurde. Die Zweite Wiener Schule, ihre Folgen im 20. Jahrhundert und Michael Gielen: Sie haben sich gegenseitig viel zu verdanken.
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