Die Botschaften des größten deutschen Denkers der Gegenwart
Der Philosoph Jürgen Habermas wird 90 – und liefert noch immer zentrale Impulse für das Ringen um Frieden und Demokratie
Was hat er nicht für schöne, für wuchtige Worte geprägt. Bezeichnete sich selbst etwa als „religiös unmusikalisch“. Brandmarkte die radikale 68er-Revolution als „linken Faschismus“. Was ihn aber nicht davon abhielt, der Religion durchaus die Möglichkeit einer gesellschaftlichen, ethischen Sinngebung zuzusprechen – und ihn, selbst politisch von links und philosophisch von Marx kommend, doch irgendwann reute für die 68er-Revolution.
So könnte man zum heutigen 90. Geburtstag von Jürgen Habermas quasi endlos auf eine große Vergangenheit und eine bewegte Entwicklung zurückblicken – mit Wurzeln in der „Frankfurter Schule“, Förderern wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, mit frühen Kampfschrift gegen Martin Heidegger, mit einer Hauptrolle im deutschen Historikerstreit, der Rezeption von Hauptwerken wie „Theorie des kommunikativen Handelns“ weltweit. Aber wichtiger ist doch, was dieser noch immer bedeutendste, vielleicht einzig international bedeutende deutsche Denker der Gegenwart noch immer zu sagen hat – auch weit über den originellen Peter Sloterdijk und den poppigen Richard David Precht hinaus.
1700-Seiten-Werk fürHerbst angekündigt
Das ist einiges – und zwar aus seinem bisherigen Wirken heraus. Dabei ist das 1700-seitige Großwerk, an dem Habermas – seit 63 Jahren verheiratet, Vater dreier Kinder, in Starnberg lebend – gerade arbeitet und dessen Veröffentlichung für Herbst angekündigt ist, noch gar nicht berücksichtigt. Es wird um Wissen und Glauben gehen.
Vor allem in dreierlei Hinsicht hat er, der als Philosoph und Soziologe ohnehin immer in der Einmischung in die Gesellschaft und im Engagement in Debatten eine Kernaufgabe des Intellektuellen gesehen hat, wesentliche Botschaften: Es geht um die Bewahrung der Demokratie, es geht um die Zukunft Europas, es geht um den Umgang mit der deutschen Vergangenheit als unrelativierbares Erbe – allesamt zugleich hochaktuell und grundlegend. Grundlegend für Habermas’ politische Haltungen wiederum ist eine philosophische Überzeugung: Er ist (in Spät-Nachfolge Kants) ein Gläubiger der Vernunft und sieht das Ziel der Gesellschaft in der Vollendung der Aufklärung. Diese jedoch nicht von oben gelehrt und verordnet, sondern als Selbstaufklärung. Und dafür braucht es Diskurs, fruchtbare Auseinandersetzungen, einen belebten öffentlichen Raum. Dafür braucht es Streit sowie die Schärfung und Gewinnung der richtigen Sprache.
Warum die Sprache besondereBedeutung für Habermas hat
Es gibt viele schöne Geschichten über die Person Habermas – etwa wie er sich gerade auch mit befreundeten Kollegen immer wieder und unermüdlich im Streitgespräch übt. Und es gibt das rührende Eingeständnis von ihm selbst, dass womöglich die Tatsache, dass er mit Gaumenspalte geboren wurde und auch nach der frühen Korrekturoperation noch lange mit Verständlichkeitsproblemen zu kämpfen hatte, zumindest mit dafür sorgte, dass die Sprache eine solche Bedeutung für ihn erhielt.
Aber so viel bleibt gerade heute weit über seine Geschichte hinaus und auch über das Fragwürdige an seiner Theorie, ob es so etwas eine perfekte Kommunikation denn überhaupt geben könne, hinaus: Die Demokratie braucht die öffentliche Diskussion, in der sich die Teilnehmer als Kontrahenten ernst nehmen. Und sie braucht (alte wie neue!) Medien, die den Streit in der Sache nicht zum Selbstzweck skandalisieren. Gerade „massenhafte Aufklärung“ benötigt Auseinandersetzung im öffentlichen Raum. Man kann sagen: Was passiert, wenn dieses nicht ausreichend gegeben ist, haben die Jahre unter Angela Merkel mit einer immer stärkeren Spaltung der Öffentlichkeit gezeigt.
Wir alle sollten das Bewusstsein für eine “Unionsbürgerschaft“ entwickeln
Zum Demokraten Habermas ist in den vergangenen Jahren immer stärker auch der Europäer Habermas gekommen. Dieser hoffte, die Finanzkrise 2008 könnte mit den folgenden Währungsschwierigkeiten dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Union auch eine politische und soziale Union wird. Und für das „über nationale Grenzen hinausgreifende Bewusstsein, ein gemeinsames europäisches Schicksal zu teilen.“ Denn es gehe darum, eine allgemeine, gefühlte „Unionsbürgerschaft“ zu entwickeln – und als demokratische Grundlage natürlich auch wieder: eine europäische Öffentlichkeit. Kein Wunder jedenfalls, dass Jürgen Habermas mit bisherigen EU-Strukturen nie auch nur annähernd zufrieden war.
Aber speziell für die Deutschen bedeutet das auch eine Absage an eine deutsche Leitkultur, Abschied von jeglichem Nationalismus: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“ Warum speziell im Deutschen?
Das ist der deutschen Vergangenheit geschuldet. Habermas nämlich focht so heftig im Historikerstreit etwa mit Ernst Nolte, weil er fürchtete, dass die Relativierung des Holocaust zu Revisionismus führen könnte. Wenn die Vergangenheit „entmoralisiert“ würde, sei die Demokratie in Deutschland wieder in Gefahr. Auch das war grundlegend gesprochen vor gut 30 Jahren – und wirkt hochaktuell im Jahr 2019.
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