
Filmkritik: Süße Blondine entpuppt sich als giftiger Racheengel

Der Mee-Too-Film verbindet romantische Komödie mit Horrorthriller. Carey Mulligan ist in ihrem Rachefeldzug gegen die Männerwelt ein Ereignis.
Es ist Freitagnacht in einem Club. Viele sind direkt aus dem Büro hier her zur After-Work-Party gekommen. Drei von ihnen stehen an der Bar und feiern die Geschäftsabschlüsse, die sie in dieser Woche getätigt haben, bis ihr Blick auf Cassandra (Carey Mulligan) fällt. Die junge Frau sitzt sturzbesoffen mit zerzaustem Haar in der Ecke und kann sich kaum noch aufrecht halten. Die Männer begaffen sie lüstern, machen ihre sexistischen Anspielungen, bis auf einen, der zu ihr hinüber geht und sich anbietet, die Betrunkene sicher nach Hause zu bringen.
Mit nüchternem Blick fragt Cassandra: "Hey, was tust du da?"
Aber im Taxi kommt dann doch die Frage, ob sie nicht noch auf einen Drink mit zu ihm kommen will, die nur mit einem Lallen beantwortet wird. Wenig später hat er die halb bewusstlose Frau auf seinem Bett platziert. Als er ihr den Slip auszieht, richtet sich Cassandra plötzlich auf und schaut ihm mit einem vollkommen nüchternen Blick in die Augen. „Hey, was tust du da?“ fragt sie ihn.

Wie es weitergeht, sehen wir nicht. Nach einem Schnitt kommt Cassandra ins Bild, die in der Morgensonne einen Burger verzehrt. Der rote Fleck auf ihrer Bluse könnte Blut sein oder ist es doch nur Ketchup? Die Hauptfigur in Emerald Fennells „Promising Young Woman“, der mit dem Oscar für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, führt ihren eigenen Feldzug gegen die Vergewaltigungskultur im Land. Jedes Wochenende spielt sie die Betrunkene. Und jedes Wochenende findet sich ein Ritter, der sie scheinbar nur nach Hause bringen will, um sich dann doch über sie herzumachen. Das Buch, das sie unter dem Bett versteckt, ist voll mit Strichlisten und Männernamen.
In "Promising Young Woman" rächt Cassandra die Vergewaltigung ihrer Freundin
Cassandra ist 30, wohnt noch bei ihren Eltern und arbeitet in einem Coffee-Shop, seit sie ihr Medizinstudium abgebrochen hat. Mit ihrer besten Schulfreundin Nina hatte sie sich damals zusammen an der Uni eingeschrieben und gehörte zu den Besten ihres Jahrgangs. Aber dann wurde Nina auf einer Party sturzbetrunken von einem Kommilitonen vergewaltigt, während seine Freunde dabei zugesehen haben. Ein traumatisches Erlebnis, das die junge Frau in den Selbstmord getrieben hat, während ihr Vergewaltiger sein Studium mit Summa Cum Laude abschloss. Seitdem ist kein Tag vergangen, an dem Cassandra sich nicht vorgeworfen hat, dass sie nicht besser auf ihre Freundin aufgepasst hat.
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Das riskante Spiel, das sie jedes Wochenende in wechselnden Clubs betreibt, ist ein Versuch, der Trauer und der Wut aktiv etwas entgegenzusetzen. Als der ehemalige Mitstudent Ryan (Bo Burnham) den Coffee-Shop betritt und mit ihr ausgehen will, lässt sie ihn zunächst abblitzen. Aber der junge Kinderchirurg ist auf respektvolle Weise hartnäckig und wirklich an ihr interessiert. Seit langer Zeit scheint Cassandra wieder romantische Gefühle für einen Mann zu entwickeln. Gleichzeitig erhält sie durch Ryan Informationen über den Verbleib von Ninas Vergewaltiger und dessen Helfershelfern, gegen die sie ihren eigenen Rachefeldzug startet: Da ist die ehemalige Freundin, die Ninas Anschuldigungen öffentlich abgetan hat, die Dekanin, die lieber wegsah als die Karriere eines jungen Mannes zu ruinieren, der Anwalt, dessen Kanzlei darauf spezialisiert ist, die Glaubwürdigkeit von Vergewaltigungsopfern vor Gericht infrage zu stellen. Und natürlich der Vergewaltiger selbst, der demnächst seine Hochzeit feiern will. Eine nach dem anderen nimmt sich Cassandra auf ihre eigene Weise vor.
"Promising Young Woman" hat einen genauen Blick auf sexistische Strukturen
Mit „Promsing Young Woman“ legt Regisseurin Fennell, die schon für die erfolgreiche TV-Serie „Killing Eve“ verantwortlich zeichnete, einen Me-Too-Film vor, der bitterböse Satire, romantische Komödie, Horrorfilm-Elemente, berührende Momente und feministische Positionsbestimmung absolut stimmig miteinander verbindet. Ihr Film hat ein genaues Auge für die sexistischen Strukturen, die für betroffenen Frauen gleichermaßen Alltag und Ausnahmezustand sind.
Dennoch ist „Promising Young Woman“ kein geradliniges Rape-Revenge-Movie, wie man es aus den achtziger Jahren kennt. Gezielt verweigert sich Fennell Stereotypen und lässt ihre Figur, ihren eigenen, nicht immer geradlinigen Weg zwischen Trauer und Wut finden. Carey Mulligan ist ein Ereignis von nachhaltiger Wirkung in dieser Rolle, mit der sie alle Opfer- und Heldinnen-Klischees unterwandert und sich auch dem Diktat einer reinigenden Katharsis verweigert.
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