Spinnen die Briten?
Für Europa bedenkenswert: Ein Star-Historiker leuchtet die Krisen-Hintergründe aus
Der Brexit ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs an Geschichte. Wer also das in der Gegenwart mit der Brexit-Krise Sichtbare verstehen will, muss unter die historische Oberfläche tauchen und die ganzen Ausmaße dieses Verhältnisses kennenlernen. „Die Briten und Europa“, heißt für diesen Tauchgang der passende Führer. Er ist vom Cambridge-Historiker Brendan Simms verfasst, also von einem prominenten britischen Professor – und das macht den Blick für Europäer und zumal für Deutsche fruchtbar. Denn es geht um mehr, als sich frei nach Obelix bloß zu wundern: „Die spinnen, die Briten …“
„Tausend Jahre Konflikt und Kooperation“ resümiert Simms also und stellt dabei vor allem eine tiefe gegenseitige Prägung fest. So gerne sich die Briten rhetorisch immer noch als politische Insel darstellten, gehörten sie freilich doch zu diesem Kontinent – und sollten darum trotz eines Ausscheidens aus der EU auch ein enger Partner bleiben.
Oder besser gar nicht erst austreten? So deutlich ist das vom Historiker nun wiederum nicht zu lesen. Denn ein Brite vergisst nicht, erst recht nicht Ereignisse des 20. Jahrhunderts: Dass etwa de Gaulle eine Einbindung verhindert hat; dass von Thatcher bis Cameron die britischen Premiers mit sehr gutem Willen, sogar gegenüber Deutschland, in ihr Amt gestartet sind – und es am Ende fast immer auch deshalb verloren, weil sie von den europäischen Partnern im Stich gelassen wurden.
Und auf immer unauflöslich erscheint der Konflikt: Die Briten waren nie durch ihren Einfluss auf dem Kontinent eine Macht in Europa, sondern durch ihre weltweite Bedeutung. Während das britische Selbstbewusstsein nur die Führungsrolle in Europa akzeptieren würde, erscheint seit dem Ende des Kolonialreichs das Außenbild doch geschmälert – und ausgerechnet die Deutschen erreichen durch ihre Wirtschaftsmacht Hegemonialstellung … Brendan Simms ist kein Brexiteer, aber schreibt: „Kontinentaleuropa hat vor 1945 versagt, und die heutige Europäische Union versagt nur etwas weniger. Großbritannien sei „im Unterschied zu buchstäblich allen anderen Staaten Europas“ allein souverän geblieben und einzige Großmacht des Kontinents. „Auch nach der Entscheidung für den ‚Brexit‘ ist die Europäische Union noch kein Feind des Vereinigten Königreichs. Man sollte sie am besten als moderne Form des alten Heiligen Römischen Reichs betrachten, die vielleicht glücklos und aufdringlich, aber nicht bösartig ist. Sie braucht Hilfe.“ So versucht ein prominenter Brite für Sympathie mit Europa zu werben.
Aber wenn Kultur eine Frage des Selbstverständnisses ist, dann offenbart sich an dieser Stelle ein Spalt, der größer ist als der Abstand zwischen Insel und Festland. Schon Churchill forderte, es sollte dereinst die Vereinigten Staaten von Europa geben – ohne die Briten.
Brendan Simms: Die Briten und Europa – Tausend Jahre Konflikt und Kooperation. Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt, DVA, 400 S., 28 ¤
Die Diskussion ist geschlossen.