Star-Philosoph: Warum der Mensch kein Zufall sein kann
Erklärt die Evolutionstheorie alles? Nein, sagt Star-Philosoph Thomas Nagel, gerade das Wichtigste eben nicht: uns! Eine Kampfansage ans herrschende Weltbild. Der Streit tobt.
In den USA wurde der „Krieg der Wissenschaften“ ausgerufen. Denn tatsächlich geht es bei dem, was der Philosoph Thomas Nagel mit seinem Buch „Geist und Kosmos“ ausgelöst hat, um weit mehr als einen Streit unter Forschern. Es geht um alles, um die Richtigkeit unseres Weltbildes. Oder besser: Es geht darum, dass es „so gut wie sicher falsch ist“, wie Nagel schreibt. Und sofort ist die versammelte Wut der Naturwissenschaftler über ihn hereingebrochen. Physiker, Chemiker und Biologen sehen sich in ihren Grundfesten attackiert. Das bedeutet nicht weniger als: Der Philosoph bringt die Evolutionstheorie ins Wanken.
Die besagt in ihrer gegenwärtigen Ausprägung: Was einst mit Zellhaufen begonnen hat, hat sich durch Zufallsveränderungen immer mehr ausdifferenziert und durch Auslese immer weiterentwickelt. Die Forscher suchen darum in Grundstoffen, ihren Eigenschaften und Reaktionsweisen nach Erklärungen, nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, von der Winzigkeit des Atoms bis in die Unendlichkeit des Universums. Und irgendwo dazwischen ist auch der Ursprung des Menschen verortet, als eine Entwicklung aus jenem Stofflichen – durch Zufall und Auslese: Denken und Fühlen als Reaktionsweise von Molekülen, der Wille festgelegt von Vernetzungen im Hirn. Das Bild der Welt ist aufs Materielle reduziert.
Wer denkt, das gelte doch bloß im Labor, überlege, was er seinen Kindern erzählt, wie der Mensch in die Welt gekommen ist: vom Einzeller zum Affen zum Menschen – durch Zufall und Auslese. So steht es schließlich auch in allen Büchern. Außer, man liest die Bibel, spricht von Gott und Schöpfung.
Wissenschaft beantwortet entscheidende Fragen nicht
Diesen vermeintlich einzig noch jenem Neodarwinismus widersprechenden Weg aber geht Thomas Nagel nicht. Sonst wäre ihm von den Naturwissenschaftlern auch keine Wut, sondern bloß Häme entgegnet worden. Nein, Nagel verweist die Glaubensinhalte in die Sphäre des rein Spekulativen, Unplausiblen. Er bleibt bei der Wissenschaft. Aber die lasse die entscheidenden Fragen im aktuellen Weltbild unbeantwortet, ja sogar unberücksichtigt: Wie ist Leben in die Materie gekommen? Und wie das Bewusstsein? Nagel konstatiert fast fassungslos: Zu beidem habe die Naturwissenschaft, die doch die „Theorie von allem“ für sich beansprucht, nichts zu sagen. Damit mache sie auch sich selbst rätselhaft. Denn die Naturwissenschaft behauptet ja, dass die Natur für den menschlichen Geist verstehbar sei – aber woher diese Fähigkeit und die einsehbare Struktur der Natur stammen sollen, gerade das erkläre sie nicht.
Nun ist Thomas Nagel trotz aller so lautenden Entgegnungen von der anderen Seite kein „Scharlatan“. Mit Oxford und Harvard, Berkeley und Princeton ist er studierend und lehrend durch die renommiertesten US-Universitäten gegangen. Bereits seit seinem legendären Essay „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ von 1974 über die Begrenztheit des menschlichen Verstehens zählt er zu den Größen der Philosophie des Geistes. Nun, mit 76 Jahren, schreibt er nicht aus bloßer Provokation gegen die Deutungshoheit der Naturwissenschaft an. Nagel tastet sich vielmehr fragend ins Zentrum einer zentralen Frage seines Denkens vor und versucht, besonnen argumentierend zu antworten.
Er schreibt: „Wenn es Organismen gibt, die vernunftbegabt sind, ist es trivialerweise richtig zu sagen, dass die Möglichkeit solcher Organismen von Beginn an da gewesen sein muss. Glauben wir aber an eine Ordnung der Natur, dann muss irgendetwas an der Welt, die letztlich rationale Wesen hervorbrachte, diese Möglichkeit erklären … Die Wahrscheinlichkeit muss in der Natur der Dinge in gewisser Hinsicht latent vorhanden gewesen sein.“
Nagel erweitert Evolutionstheorie um die Dimension des Geistes
Aber wie? Thomas Nagel fordert eine entscheidende Erweiterung der Evolutionstheorie um die Dimension des Geistes. Und hier öffnet sich nun ein weites Feld, wo bislang die Reduktion der Naturwissenschaft herrscht – auch über unser Weltbild. Für Nagel ist eine Lösung vorstellbar, nach der sich eine ursprüngliche Einheit von Geist und Materie in der Natur finden lässt – so wie die Physik einst die Trennung von Materie und Energie aufgeben musste. Für eine solche Einheit, so Nagel, reicht unser heutiges Verstehen, er schreibt: „Ich würde darauf wetten wollen, dass der gegenwärtige Konsens in einer oder zwei Generationen lachhaft wirken wird.“
Es würde die Weitung der Naturwissenschaft mit ihren ewigen mathematischen Gesetzen bedeuten, nicht bloß ewiges Wandeln und Fortschreiten, sondern: eine enthaltene Geschichte mit dem Ziel der Entstehung des Bewusstseins. Der Mensch ist keine göttliche Schöpfung, sondern eine der Natur. Aber in ihr steht er für die Möglichkeit, dass sie sich ihrer selbst bewusst wird, sich selbst versteht.
Thomas Nagel fordert nicht weniger als eine Revolution unseres Weltbildes. All jene, die ihm quasireligiöse Verblendung vorwerfen, offenbaren nur, wie quasireligiös ihr eigener Glaube an die Dogmen der Naturwissenschaft ist. Die Kränkung, mit seinem Bewusstsein in der Welt nicht mehr vorzukommen, seinen Geist von der Wissenschaft wegerklärt zu bekommen – diese Kränkung hat der Mensch sich selbst zugefügt. Dagegen geht Thomas Nagel an. Wer den Begriff der Natur weitet, weitet auch das Verständnis des Menschen.
Nagel: „Das ist es also, was eine Theorie von allem erklären können muss: nicht nur die Entstehung von sich vermehrenden Organismen aus einem leblosen Universum und deren Entwicklung durch die Evolution zu immer größerer funktionaler Komplexität; nicht nur das Bewusstsein bei einigen dieser Organismen und dessen bedeutende Rolle in ihrem Leben; sondern auch die Entwicklung von Bewusstsein zu einem Instrument der Transzendenz, das objektive Wirklichkeit und objektive Werte erfassen kann.“ Dazu braucht es keinen Gott.
Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Suhrkamp, 187 Seiten, 24,95 Euro
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