Versöhner der Welten
Der große Philosoph Michel Serres ist tot
Michel Serres, Bestseller-Autor und Mitglied der Académie Française, ist am Samstag im Alter von 88 Jahren gestorben. Aber Serres war viel mehr als ein bekannter Philosoph. Wer das Glück hatte, ihn persönlich zu erleben, denkt zurück an einen Mann, der mit mehr Talenten gesegnet war, als sie in einem Leben genutzt werden können.
Er sei „vom Land und dem Fluss“ großgezogen worden, sagte Serres über sich. Der Fluss, das war die Garonne, auf deren Wassern seine Familie die Erzeugnisse ihres Steinbruchs verschiffte; das Land die heutige Region Nouvelle-Aquitaine, deren Bewohnern, außer der großen Leidenschaft für Rugby, ein Hang zur großen Geste und zum lebhaften Erzählen nachgesagt wird.
Die große Bühne ausfüllen konnte Serres ganz sicher. Zwischen 2004 und 2018 war Serres jeden Sonntag Gast der Sendung von Michel Polacco auf Radio France Info und ordnete dort das Zeitgeschehen ein – optimistisch und zugänglich für eine breite Hörerschaft. Noch bei einem Besuch im Sommer 2017 in seinem schlichten Stadthaus in Vincennes, nahe Paris, öffnete ein vom Alter ungebeugter Mann die Tür: Die unzähmbaren Augenbrauen, das wirr abstehende Haar, vor allem aber die wachen Augen und der Mund, den scheinbar immer ein spitzbübisches Lächeln umspielte. Serres war ein großer Unterhalter mit der seltenen Gabe, sich völlig auf sein Gegenüber einzustellen. Sein Denken war geprägt von der Neugierde eines Kindes und dem enzyklopädischem Wissen eines Gelehrten, der die höchsten akademischen Weihen seines Landes erhielt. Sein Ziel war es, Naturwissenschaft und Philosophie, die in immer feinere Spezialisierungen auseinanderstreben, miteinander zu versöhnen. Nur so könne die Menschheit überleben, so Serres, der über Leibniz promovierte.
„Wir haben die vergangenen Jahrhunderte damit zugebracht, das Individuum zu befreien. Es ist vollbracht, aber der Preis dafür ist hoch: Der Mensch hat keine Zugehörigkeiten mehr“, sagte Serres bei jenem Besuch unter dem Eindruck der Wahl Macrons und des Aufstiegs der Populisten. „Les immortels“ – die Unsterblichen – heißen die 40 auf Lebenszeit gewählten Mitglieder der Académie Française in Frankreich. Platz 18 ist nun leer.
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