Von Euphorie bis Zweifel: Kirill Petrenko stellt sich neuer Aufgabe
Das erste Orchester im Staat hat jetzt überraschend schnell den Nachfolger von Chefdirigent Simon Rattle gefunden. Es ist der Charismatiker Kirill Petrenko.
Als dieser kleine, gerne verschmitzt lächelnde Mann im Jahr 2013 nach Bayern gekommen war und hier seine ersten Dirigate in festen Engagements geleistet hatte, überschlugen sich Publikum und Fachwelt. Bayreuth – wo man sich chronisch uneinig ist – war sich einig über eine orchestral exorbitant herausragende „Ring des Nibelungen“-Neuproduktion. Und als er dann im Herbst als neuer Generalmusikdirektor der Staatsoper München mit Strauß’ „Frau ohne Schatten“ antrat, da geriet auch das wieder nachgerade sensationell. Gefolgt von weiteren Großtaten, etwa Zimmermanns „Die Soldaten“, die die Staatsoper umgehend zur „Oper des Jahres“ 2014 machten.
Die Sache liegt seit langem klar auf der Hand: Dieser Mann aus dem russischen Omsk/Sibirien hat neben dem unabdinglichen handwerklichen Können exakt das, was mit Worten so schwer zu umreißen ist, wofür es aber dennoch Begriffe gibt: Charisma, Aura, Ausstrahlung. Er kann ein Orchester klar formen – und wichtiger noch: Er kann Musik klar formen. Folgerichtig wurde gestern der 43-jährige Kirill Petrenko offiziell zum Nachfolger von Chefdirigent Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern ernannt. In einer geheim gehaltenen Orchesterversammlung am Sonntag, in einem nur dreistündigen zweiten Wahlanlauf nach Mai 2015, hatte eine große Mehrheit der 124 wahlberechtigten Instrumentalisten für Petrenko gestimmt – und dieser nahm die Wahl in einem nachfolgenden Telefonat sofort an.
Als Vorvorgänger Claudio Abbado 1989 sein Amt am Pult antrat, da erklärte er: „Ich bin Claudio für alle. Kein Titel!“ Als jetzt Petrenko zusagte, so berichtet es Orchestervorstand Peter Riegelbauer (Kontrabass), habe er erklärt: „Ich umarme das Orchester.“ Es herrscht vollendete Harmonie. Zwei versprechen sich gegenseitig, nachdem Petrenko die Berliner schon 2006, 2009 und 2012 als Gast dirigiert hatte. Nun sagt er: „Man kann es gar nicht in Worte fassen, was in mir gefühlsmäßig vorgeht: Von Euphorie und großer Freude bis zu Ehrfurcht und Zweifel ist da alles drin. Ich werde meine ganze Kraft mobilisieren, diesem außergewöhnlichen Orchester ein würdiger Leiter zu sein und bin mir auch der Verantwortung und der hohen Erwartungen bewusst.“
Wann Petrenko Stelle bei den Berliner Philharmonikern antritt, ist noch unklar
Ab wann aus der Verlobung ein Bindungsvertrag wird, wann also Petrenko seine Stelle antritt, das ist vorerst noch Verhandlungssache. 2018 wäre vertraglich möglich. Dann verlässt Rattle die Berliner, dann läuft Petrenkos Münchner Kontrakt aus. Es könnte aber auch später sein. Denn der Intendant der Staatsoper, Nikolaus Bachler, ließ gestern neben der Gratulation verlautbaren: „Gleichzeitig freue ich mich, dass Herr Petrenko und ich gemeinsam eine vom Bayerischen Kultusminister angebotene Vertragsverlängerung an der Bayerischen Staatsoper anstreben.“ Wer will, kann da auch eine leichte Verschnupftheit heraushören.
München weiß jedenfalls, was es einstweilen noch hat an Petrenko, der in Vorarlberg aufgewachsen ist, Schüler unter anderem von Semyon Bychkov war und bislang Festengagements in Wien, Meiningen und Berlin hatte. Es ist schon beinahe unglaublich, dass die zwei weltweit wohl gefragtesten Pultstars an der Isar nebeneinanderher dirigieren: Eben Petrenko an der Oper sowie Mariss Jansons vor dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – ursprünglich, in den Wochen vor dem ersten Wahlgang, favorisiert in Berlin, noch vor Petrenko.
Dieser gibt sich nun mit der Annahme des Berliner Rufs deutlich souveräner als anscheinend ein anderer aus der engeren Kandidatenrunde: Christian Thielemann. Beobachter vermelden, Thielemann habe nach der ergebnislosen Mai-Orchesterversammlung den Berliner Philharmonikern mitgeteilt, dass er nicht mehr zur Verfügung stehe, weil er von ihnen keine deutliche Mehrheit erhalten hatte.
Petrenko lässt Musik für sich sprechen
Also Petrenko. Der siebte Chef seit Hans von Bülow 1887. Petrenko, der Bescheidene, der den Applaus für ihn immer sofort umlenkt auf die Musiker, die gespielt und gesungen haben. Der Arbeitsame, der eine Produktion von Anfang an begleitet – und nicht den Assistenten, in seinem Fall die Assistentin vorschiebt. Der Medienscheue, der keine Lust hat, sich direkt oder indirekt über Statements zu verkaufen – stattdessen lieber die Musik für sich sprechen lässt. Wer hat je ein Interview mit ihm gelesen? Lange her.
Aber genau diesbezüglich ergibt sich auch ein Fragezeichen für Berlin. Erst Simon Rattle, der pädagogisch-joviale Dirigent; demnächst Petrenko, der schweigsame, sich ganz auf seine Kernkompetenz zurückziehende musikalische Botschafter: Das ist ein Bruch im Medienunternehmen Berliner Philharmoniker, da wird der Intendant einspringen müssen.
Ist es denn nicht auch richtig, dass die Arbeit an der Sache weit, weitvorzugehen hat – also der Inhalt? Und nicht die Verpackung, nicht der Verkauf, nicht die Selbstdarstellung. Noch einmal Petrenko zu seiner Wahl: „Vor allem erhoffe ich vom gemeinsamen Musizieren viele Momente des künstlerischen Glücks, die unsere harte Arbeit belohnen und unser Künstlerleben mit Sinn erfüllen sollen.“
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