Warum er und nicht ich?
Heinz Helles riskante Schicksalsergründung
Die Frage ist groß, das Drama nicht minder. Denn hier begibt sich einer auf die Spuren seines Bruders, der zugrunde gegangen ist. Vor allem in Erinnerungen an die letzte, gemeinsam durchzechte Nacht, aber von da aus auch immer wieder ausgreifend sucht er nach Antworten: Ist das Dasein nur dadurch zu ertragen, dass man nicht zu genau hinschaut? Muss, wer wirklich konsequent ist und denkt, nicht unweigerlich an sich und der Welt verzweifeln?
Und groß ist auch das erzählerische Wagnis, das der bereits für seine beiden bisherigen Romane gefeierte Schweizer Heinz Helle dazu eingeht. Es gibt ja immer wieder solche Experimente: Michael Lenz hat kürzlich in „Schattenfroh“ einen Tausendseiter ohne Kapitelgliederung mäandernd zum Tod des Vaters assoziiert; Elmar Tannert zuvor dem Titel entsprechend in „Ein Satz an Herrn Müller“ erst am Ende von über 250 Seiten einen Punkt gesetzt. Beides halb geglückt, schwer lesbar. Helle, Jahrgang ’78, nun wandert in oft kunstvoll geflochtenen Sätzen 200 Seiten lang ohne einen einzigen Absatz in Erinnerungen und Betrachtungen, räsoniert dabei auch über die aktuelle Politik, greift zurück bis Hitler, erzählt aber auch von der letzten Liebe des Bruders zu einer (von ihm?) schwangeren Prostituierten. Natürlich: Das Tasten und Zerfasern der Gedanken ist angesichts des Unfasslichen stimmig. Und das Ergebnis zwar fordern, aber auch überzeugend, weil meist klug und oft bewegend. (ws)
Die Diskussion ist geschlossen.