Wer will das Leid sehen? Und wozu?
Vor 200 Jahren erlitten Schiffbrüchige auf dem „Floß der Medusa“ Unmenschliches. Jetzt arbeitet ein Roman den Horror auf dem Meer auf – und stellt damit Fragen auch ans Heute
Was können wir Menschen ertragen? Die Frage stellt sich hier gleich doppelt.
Zum einen: an unmittelbarem Leid. Volle 14 Tage lange waren diese Menschen im Juli des Jahres 1816 auf offener See dahingetrieben, hungernd und dürstend, die Hoffnung und den Verstand verlierend, bevor sie gerettet wurden. Die 15, die noch übrig waren. Von 147, die sich anfangs, nach dem Schiffbruch der Fregatte Medusa auf der Fahrt in den Senegal, auf dem nur notdürftig zusammengezimmerten Floß gedrängt hatten, zurückgelassen von der zuallererst in Boten sich selbst rettenden Führungsmannschaft. Aber wer jetzt noch lebte, der hatte nicht nur zuvor unvorstellbare Qualen durchlitten, sondern auch zuvor unumstößliche Grenzen übertreten – der hatte zum Beispiel von den Leichen der anderen gegessen …
Aber zum anderen stellt sich die Frage eben auch mittelbar. Was nämlich können und was wollen wir ertragen, zu erfahren, zu sehen, mitgeteilt zu bekommen? Was also soll von solchen Tragödien hereinbrechen in unser Leben, das damit doch eigentlich gar nichts zu tun hat? Damals wollte nur einer der Überlebenden vom Floß überhaupt von der Tragödie berichten, der zweite Schiffsarzt Henri Savigny. Auch um darzustellen, wie ein völlig unerfahrener und unfähiger, nur aufgrund familiärer Beziehungen eingesetzter Kapitän die Tragödie verschuldet hat – aber vor allem, um als Erforscher des Menschen auch davon zu zeugen, welche Folgen auf Körper, Charakter und Moral eine solche Extremsituation hat. Nur lesen wollte diesen Bericht keiner und keiner das geschehene Leid überhaupt zur Kenntnis nehmen.
Bloß weil Zeitungen an die Schrift gelangten und dann als Sensation und Skandal verkauften, wurde das Floß der Medusa überhaupt zum öffentlichen Thema – und Savigny in der Folge bestraft, weil es als unpatriotisch angesehen wurde, Frankreich in der politisch schwierigen Zeit der Rückkehr zur Monarchie so schlecht und verantwortungslos dastehen zu lassen. Und auch als zweieinhalb Jahre später der Maler Théodore Géricault sein auf dem Bericht des Schiffsarzt basierendes, bis in die Details explizites Gemälde im Pariser Salon präsentierte, war die Aufregung, ob man so etwas zeigen dürfe, groß und der König höchstselbst rüffelte den Künstler dafür.
Denn: Wozu das Leid zeigen? Wer wollte das sehen? Was nützt das Ergötzen am Leid – oder auch das Mitleid?
Das große menschliche Drama im Meer und unsere Haltung dazu: Das ist auch heute, 200 Jahre später, noch eine Frage. Sogar schon, was das Floß der Medusa angeht. Denn obwohl Millionen sich inzwischen gerührt und beeindruckt zeigen von Géricaults Gemälde, das riesig und prominent im Louvre prangt – bis jetzt gibt es noch keinen Film, hat es noch keinen Roman gegeben, der sich des Dramas angenommen hat. Warum? Das zeigt sich jetzt, wo es der österreichische Schriftsteller Franz Stefan Griebl getan hat, der sich Franzobel nennt.
Dabei könnte man nicht behaupten, dass der bereits reichlich dekorierte und in seinen Büchern ja ohnehin gern wagemutige Autor nicht großen und persönlichen Aufwand betrieben hätte: Der 49-Jährige hat zwei Wochen lang gefastet bis zum Hungern, ist in den Senegal gereist, hat bis ins kleinste historische, medizinische und nautische Detail recherchiert. Aber was mit dem Roman „Das Floß der Medusa“ herausgekommen ist, hat dann doch mit einer aufregenden Abenteuergeschichte mehr gemein als mit einer wahren menschlichen Tragödie.
Schwungvoll moderierend schildert Franzobel bereits in der langen Vorgeschichte an Bord der mit rund 400 Menschen besetzten Medusa nicht nur das pralle gesellschaftliche Leben in Klassen – sondern auch alle erdenklichen Grausamkeiten, von einer rituellen Seetaufe durchs lebensgefährliche Kielholen bis zum tödlichen Ausgang einer Bestrafung durch Auspeitschen, oft noch geschildert aus den Augen eines betont unschuldigen Schiffsjungen. Und in diese süffige Zumutung verwandelt sich dann auch das 14-tägige Drama auf dem Floß. Aber inmitten all der geschilderten Katastrophen und Torturen bleibt so gerade das Wesentliche bloß Behauptung: ein Einfühlen in die Verzweiflung und die Verlorenheit des Menschen an der Grenze aller Moral, aller Kultur, allen Seins – und des Wahnsinns jenseits davon. Dafür besitzt Franzobel nicht die richtige Sprache, die nicht satt, sondern nahe am Versiegen sein müsste, wie bei Beckett.
Um wie viel mehr muss das dann erst für die heutigen Dramen auf dem Meer gelten? All die vielen Schilderungen und Bilder von Flüchtlingsbooten und -toten können nicht einfangen, was Menschen dort ertragen. Und wie sollten wir die Tragödie auch ertragen, zumal in ihrer ständigen Wiederholung? Und wozu? Müssen wir nicht, wie Staat und König einst, unweigerlich die Konfrontation mit der Katastrophe von uns weisen, damit wir nicht Verantwortlichkeiten empfinden, denen wir unmittelbar gar nicht gerecht werden können?
Und vielleicht muss man sich gerade in unseren Tagen, die Grausamkeit und Leiden ja gerne so lustvoll, effektreich und geradezu in genießerischem Übermaß inszenieren – in Literatur und Film, im Computerspiel und auch auf dem Nachrichtenboulevards – ja einen Satz vor Augen führen, den eine Zeitschrift damals angesichts des Gemäldes Géricaults formulierte: „All die eingebildeten Schrecken unserer Melodramen und Tragödien sind nichts, verglichen mit den wirklichen Schrecken dieser Katastrophe.“ Und so auch: …verglichen mit den aktuellen wirklichen Dramen. Bloß: Merken wir’s noch? Wollen wir den Unterschied noch merken?
Auch Franzobel als der, der uns die Katastrophe nun als Roman neu vor Augen führt, formuliert eine Lehre: „Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr.“ Das ist das, was unmittelbar an der Not kaum schwer zu ertragen ist. Das auch uns heute Betreffende, das Mittelbare geht weit darüber hinaus. Es ist die Lehre: Wo es kein Mitgefühl gibt, gibt es keinen Menschen mehr.
Franzobel: Das Floß der Medusa. Paul Zsolnay Verlag, 592 S., 26 ¤
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