Wie ein US-Comic-Autor die Weimarer Republik zum Leben erweckt
Mehr als 20 Jahre lang arbeitete der US-Comic-Künstler Jason Lutes an seiner Graphic Novel "Berlin". Nun kommt er nach Deutschland. Worum es in ihr geht.
Die 20er Jahre üben zurzeit eine große Faszination auf viele Deutsche aus. „Babylon Berlin“, die Erfolgsserie nach Romanen von Volker Kutscher, beschwört die „Goldenen Zwanziger“ herauf. Ihr dekadentes Nachtleben, Berlin als mythischer Ort. Und zugleich fragen sich viele: Haben wir bereits Weimarer Verhältnisse?
Und meinen damit die tief greifenden Krisen, mit denen die junge Demokratie einst zu kämpfen hatte. Sie denken an deren schwaches politisches System, an die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der extremen Rechten. An Gewalt und Straßenschlachten. Der US-amerikanische Comic-Künstler Jason Lutes hat jener Epoche eine beeindruckende Graphic Novel, einen Comic-Roman, gewidmet.
Herr Lutes, Sie haben mehr als 20 Jahre lang an Ihrer Graphic-Novel-Trilogie „Berlin“ gearbeitet, deren Gesamtausgabe jetzt erscheint – ein Epochengemälde der späten Weimarer Republik. Diese Zeit fasziniert in Deutschland gerade viele, auch wegen der Serie „Babylon Berlin“ …
Jason Lutes: Ich kenne die Serie, habe sie aber noch nicht gesehen. Ich brauche gerade eine kleine Pause von der Weimarer Republik. Aber „Babylon Berlin“ ist sehr beliebt hier in den USA. Viele Leute haben es mir empfohlen. Viele ziehen auch Parallelen zu meiner Geschichte.
Ihr Comic-Roman wirkt wie ein Drehbuch. Was würden Sie dazu sagen, wenn ihn jemand verfilmen möchte?
Lutes: Ich bin offen für die Idee. Und es gibt tatsächlich auch Interesse an einer Verfilmung. Mein Agent ist damit befasst.
Eine Ihrer Hauptfiguren ist der fiktive Journalist Kurt Severing, der für „Die Weltbühne“ schreibt, die es damals wirklich gegeben hat. Wer könnte ihn am besten spielen?
Lutes: Der junge Bruno Ganz (lacht). Oder dieser Schauspieler, der in „The West Wing“ und in „Get Out“ mitgespielt hat. Wie heißt er noch gleich? Ja, genau: Bradley Whitford. Er sieht ein bisschen aus wie Kurt.
Sie sind bald auf Lesereise in Deutschland. Wann waren Sie davor eigentlich zum letzten Mal in Berlin?
Lutes: Das muss acht Jahre her sein. Es war mein zweiter Besuch dort. Als ich das erste Mal im Jahr 2000 nach Berlin kam, da hatte ich schon 200 Seiten meines Buches fertig. Aus meinen Recherchen hatte ich eine Vorstellung von Berlin – als ich hinkam, hatte ich aber ein bisschen Panik.
Warum das?
Lutes: Ich habe befürchtet, dass die echte Stadt meine ganze Arbeit zunichtemachen könnte.
Sie begannen 1996 mit „Berlin“ …
Lutes: Ja. Und ich dachte dann: Alle Arbeit könnte vergebens gewesen sein, weil ich Dinge in Berlin sehen könnte, die mich wie einen Schwindler aussehen lassen. Glücklicherweise kam es anders.
Sehen Sie Parallelen zwischen der Weimarer Republik und dem heutigen Deutschland?
Lutes: Zumindest gibt es weltweit ein Erstarken des Nationalismus, des Faschismus und rückwärtsgewandter Absichten. Ob es Parallelen gibt? Ich habe mir darüber lange Gedanken gemacht. Inzwischen glaube ich: Es gibt ähnliche Kräfte, etwa Hass und Angst, die immer wieder an die Oberfläche drängen und zu ähnlichen Entwicklungen führen.
Mal angenommen, dass Zeitreisen möglich wären. Was würden Sie in den späten 20er und frühen 30er Jahren in der Weimarer Republik tun?
Lutes: Junge, Junge! Das ist eine interessante Frage, die ich unmöglich beantworten kann. Andererseits ist es genau das, was mich so fesselt an der Zeit der Weimarer Republik: In der gab es eine Menge Ideen und Kräfte. Es gab das Gefühl, die Zukunft ist noch ungeschrieben und die Dinge könnten jede mögliche Richtung nehmen. Ich glaube, ich würde versuchen, das Attentat auf Reichsaußenminister Walther Rathenau im Jahr 1922 zu verhindern. Aber ob das den Lauf der Geschichte verändert hätte? Hitler zu töten, zum Beispiel, hätte vielleicht ab einem gewissen Zeitpunkt auch nicht mehr viel verändert. Denn der Hydra, dem Bösen, wären viele Köpfe nachgewachsen und die zugrunde liegenden, tief greifenden Entwicklungen und Probleme der damaligen Zeit wären damit ja auch nicht gelöst gewesen.
Sie haben sich so richtig in die Vergangenheit vertieft.
Lutes: Ich habe alles gelesen, was ich über die damalige Zeit in die Hände bekommen konnte. Wo ich auch wohnte, arbeitete ich im Keller. Ich bin hinabgestiegen – und als ich wieder heraufkam, war das wie nach einem Traum. Denn ein Teil meiner Arbeit war es, zu versuchen, mir vorzustellen, wie es im Berlin der 20er und 30er Jahre gewesen sein könnte. Ich hatte auch eine Karte von Berlin an der Wand.
Ein Berlin, das Sie in Schwarz und Weiß zeichneten. Und das Sie auch nur von alten Schwarz-Weiß-Fotos kannten?
Lutes: Kann man so sagen. Wissen Sie, meine Recherchen gingen nur bis zum Jahr 1933. Das einzig Bunte, das ich aus der Zeit der Weimarer Republik zu Gesicht bekam, waren Gemälde. Als ich dann das echte, moderne Berlin sah – nicht nur das aus den Archiven und das aus meiner Vorstellung – war ich erstaunt, wie schön und reich und bunt die Stadt ist. Berlin war komplexer und faszinierender als alles, was ich mir hätte ausdenken können.
„Babylon Berlin“, das auf den Romanen von Volker Kutscher basiert, ist ja ein Krimi, der im Berlin der Weimarer Republik spielt …
Lutes: Mein Ziel war es nicht, eine bestimmte Geschichte zu erzählen. So wie Kutscher, der ja die Form des Krimis gewählt hat. Ich wollte das Leben der Leute in der Weimarer Republik zeigen.
Wie gingen Sie vor?
Lutes: Ich habe zwei Jahre recherchiert, erst dann begann ich mit meiner Geschichte. Meine beiden Hauptfiguren sind Kurt, ein Journalist, und die Kunststudentin Marthe Müller. Weil ich jemanden haben wollte, dessen Hauptausdrucksweise das gedruckte Wort ist, und jemanden, der sich durch Bilder ausdrückt. Denn genau das macht das Medium Comic aus – beides verband ich auf der Bühne Berlin. Dann wollte ich sehen, wie Kurt und Marthe miteinander agieren, sich gegenseitig beeinflussen. Um auf diese Weise das Medium Comic und gleichzeitig die Geschichte erkunden zu können. Anfangs war das eine eher abstrakte Idee. Zum Glück wurden Kurt und Marthe dann mehr als nur Mittel, um diese Idee zu transportieren – sondern eher zu echten menschlichen Wesen, über die ich selbst mehr erfahren wollte.
Hat Kurt Severing den echten Journalisten und Schriftsteller Kurt Tucholsky zum Vorbild? Sie sehen sich ein wenig ähnlich, schreiben beide für „Die Weltbühne“ und beide verzweifeln an den Zuständen der Weimarer Republik, den immer mächtiger werdenden Nationalsozialisten …
Lutes: Ich habe viel über die linken Intellektuellen und Schriftsteller der Weimarer Republik gelesen, natürlich auch Tucholsky. Er ist definitiv in die Figur Kurt Severing mit eingeflossen, aber Severing ist nicht Tucholsky.
In Ihrer Graphic Novel „Berlin“ geht es auch um das Thema Pressefreiheit. Wie wichtig ist diese für eine freie Gesellschaft?
Lutes: Sie ist von zentraler Wichtigkeit. Demokratie funktioniert nur durch eine gebildete und gut informierte Öffentlichkeit. Mich beunruhigt es daher zutiefst, dass in meinem Land die Zahl an Fake News und sogenannten alternativen Fakten zunimmt. Alternative Fakten! Dass eine Beraterin des US-Präsidenten diesen Begriff prägte, ist für mich auch ein klares Zeichen dafür, dass unsere Institutionen in Not geraten.
Wie bedroht ist die Pressefreiheit in den USA?
Lutes: Das ist eine offene Frage. Ein Teil von mir ist recht zynisch, ein anderer Teil optimistisch. Ich denke mir also manchmal: Wir haben noch weitaus größere Probleme, etwa den Klimawandel. Der könnte die gesamte Menschheit auslöschen, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Und dann suche ich wieder nach dem Guten und denke: Die USA sind noch nicht kollabiert. Oder: In den letzten Midterm-Wahlen wurden viele Frauen, viele Farbige gewählt – das gibt mir Zuversicht.
Ab dem 29. Januar sind Sie auf Lesetour in Deutschland, am 30. Januar kommen Sie auch wieder einmal nach Berlin. Was glauben Sie, in welches Land Sie da kommen werden? Ein optimistisches, ein zerrissenes …?
Lutes: Das kann ich nicht sagen, aber ich bin neugierig darauf, es zu erfahren. Ehrlich gesagt: Mich beschäftigt gerade ziemlich der Zustand meines eigenen Landes. Das Leben in den USA hat sich in den vergangenen Jahren so dramatisch verändert und jeder Tag erscheint mir wie ein neues, verrücktes Drama.
Sie werden das in Deutschland sicher oft gefragt werden: Wie sehen Sie Deutschland?
Lutes: Als Außenstehender und als jemand, der nur kurz dort war, ist meine Sicht auf Deutschland oder Berlin natürlich sehr begrenzt. Was mir aber sofort in Berlin auffiel und was mich wirklich einnahm, war, dass es ein Ort ist, der offen mit seiner Geschichte umgeht. Dagegen ist es geradezu erschütternd, wie wir in den USA mit unserer Vergangenheit und den schlechten Entscheidungen, die getroffen wurden, umgehen. Berlin ist in dieser Hinsicht ein sehr ehrlicher Ort.
Einer, der Sie jahrzehntelang beschäftigt hat.
Lutes: Ich bin jetzt erst einmal sehr erleichtert darüber, dass ich „Berlin“ abgeschlossen habe. Ich war 26, als ich damit begann, jetzt bin ich 51. Mein nächstes Comic-Buch wird ein Western sein, der in Arizona im Jahr 1865 spielt.
Jason Lutes: Berlin (Gesamtausgabe der drei bisher erschienenen Bände als Hardcover). Carlsen Verlag, 608 Seiten, 46 Euro. Diese Ausgabe der Graphic Novel erscheint am 29. Januar in Deutschland. Lutes wurde in New Jersey geboren und lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Vermont. Er ist vom 29. Januar bis zum 6. Februar in Deutschland. Am 4. Februar kommt er zu einer Lesung nach Stuttgart.
„Berlin“ von Jason Lutes – Darum geht es
Die drei „Berlin“-Bände von Jason Lutes sind in Deutschland im Jahr 2000 („Steinerne Stadt“), 2008 („Bleierne Stadt“) und 2018 („Flirrende Stadt“) erschienen. Er erzählt in ihnen unter anderem von der fiktiven Studentin Marthe Müller und dem fiktiven Journalisten Kurt Severing. Der arbeitet für die „echte“ Weltbühne des Herausgebers und späteren Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky. Müller und Severing sind Figuren, die für ganze Gruppen und Milieus stehen, und die immer tiefer in den Sog der politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Umbrüche hineingezogen werden. Bis zum bitteren Ende der Weimarer Republik mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Paul von Hindenburg – und den Tod der unabhängigen Presse. Mit dem Blick von außen gelingt Lutes ein Einblick in die Spätphase der Weimarer Republik, der lehrreich ist und berührt.
Die Diskussion ist geschlossen.