Wie man die Welt mit Stift und Papier erfasst
Skizzenbücher sind für Künstler ein nahezu unverzichtbares Arbeitsmittel. In der Pinakothek der Moderne gibt es dazu nun eine erhellende Schau in München.
Nie war die Mitschrift von Welt und Erleben so einfach wie heute. Ein, zwei Fotos mit dem Telefon, das auch ein paar spontan hingesprochene Eindrücke aufnimmt oder eine im Vorübergehen getippte Bemerkung speichert.
Und doch erreichen solche digitalen Notate aus Bild und Wort nicht die Unmittelbarkeit und bezwingende Wahrhaftigkeit, wie sie der Zeichnung und der schriftlichen Anmerkung von Hand eigen sind. Welche erstaunliche Qualität das Skizzenbuch hat, das Journal des Künstlers, sein Arbeits- und Begleitbuch – das offenbart eine Ausstellung der Münchner Graphischen Sammlung in der Pinakothek der Moderne.
Angeregt vom stattlichen eigenen Bestand von 260 Künstler-Skizzenbüchern gab es dort ein Forschungsprojekt zu diesem Sujet, welches nun in die erste Museumsausstellung mündete, die sich ganz dem Skizzenbuch widmet. Dies ist keine historisierende Ausstellung. Denn ob ein Carl Spitzweg oder Zeitgenossen wie der Bildhauer Olaf Metzel solche Bücher füllen, macht keinen Unterschied.
Künstler notieren, sammeln und entwerfen in Skizzenbüchern
Weil Künstler in diesen Kladden unbefangen notieren, probieren, staunen, tasten, erkunden, sammeln, befragen, entwerfen und verwerfen, versiegelt kein Epochenstil, keine Perfektion das lebendige, frische, vorläufige Bild dieser wundersamen Dokumente der Wahrnehmung.
Man schaut darauf und es ist, als ob der letzte Strich eben erst getan (oder unterlassen!) wurde. Auf jeder Seite atmet noch das konzentrierte Aneignen, die Geduld und die Hinwendung, mit der der Künstler sich einen Gegenstand anverwandelt hat.
Weil die Ausstellung sich vor allem mit dem Wesen, der Funktion und auch der Objekthaftigkeit des Skizzenbuches befasst, wird der Blick des Betrachters dankenswerterweise weggelenkt von der üblichen Suche nach großen Namen.
Pinakothek zeigt auch Seiten von Picasso und Cézanne
Die fehlen nicht (es gibt zwar keine Skizzenbücher, aber einzelne Seiten von Pablo Picasso, Paul Cézanne oder Pierre Bonnard), man vermisst sie aber auch nicht. Zu sehen sind in München auch Skizzenbücher, deren Verfasser kaum bekannt oder gar anonym sind, die aber genauso erzählen von diesem Medium wie die aus dem Nachlass klangvoller Namen.
Im Laufe des Rundgangs durch die Schau sammeln sich im eigenen Notizblock jede Menge Stichworte. Kleinod. Fingerübung. Weltaneignung. Gebrauchsspuren. Reservoir. Sammelsurium. Bruchstücke. Unvollendetes. Begreifen durch Betrachten. Verdichtung von Aufmerksamkeit. Intimität. Charme der Abnutzung.
Das Skizzenbuch, das war vor Jahrhunderten nicht anders als heute, ist eine Art Botanisiertrommel des Verfassers, ein Tagebuch, in dem alles Mögliche gesammelt und festgehalten wird, was Aufmerksamkeit erregt und nicht verloren gehen soll.
Spontane Einträge im Skizzenbuch
Man trägt es mit sich, die Einträge sind spontan, entstehen irgendwo vor Ort und sind von jener Freiheit und Ungezwungenheit des Sehens und Aufnehmens imprägniert, die die Nachwelt so fasziniert.
Maler, Bildhauer, Architekten (oder auch Autoren wie Peter Handke, dessen kleine Zeichnungen aus seinen Tagebüchern in Berlin in einer Ausstellung gezeigt wurden) schreiben in diesen Büchern mit, was sie beschäftigt, worauf sich ihr Interesse richtet.
Jeder interpretiert den Begleiter Skizzenbuch, der früher Einzelanfertigung war, seit dem 19. Jahrhundert aber ein Massenprodukt ist, anders. Es gibt den Künstler, der feinsäuberlich ausgearbeitete kolorierte Werke auf die Seiten bringt (oder die, wie die 1968 geborene Ines Beyer, in ihrem Buch gleichsam arbeitet wie unter dem Blick einer Öffentlichkeit) und es gibt jene, die kritzeln und streichen und schmieren und einkleben und knittern.
Manche (wie Spitzweg) signieren jede Seite ihres Skizzenbuchs, andere paginieren nur von Hand. Viele mischen alltägliche Notizen hinein wie Einkaufslisten für Rahmen und Farben oder längere Tagebucheinträge.
Wer in Skizzenbüchern blättert, begleitet den Künstler
Skizzenbücher sind die Sudelblätter und die Zettelwirtschaft hinter dem Werk, sind Spurenbild und Partitur des Unfertigen, Abbild vom Streunen im Sehen. Wer darin blättert, ist mit einem Künstler unterwegs – auf Reisen etwa, wie im 19. Jahrhundert so viele Künstler. Aber auch unterwegs zu Bildfindungen.
Wo sonst als im Skizzenbuch gibt es dieses Ausprobieren, das Neben- und Ineinander, das immer wieder neue Ansetzen? Da sammelt Alexander Kanoldt, der große Maler der Neuen Sachlichkeit, Passanten, zeichnet Otto Stützel über eine ausgearbeitete Studie eines Kircheninnenraums einen schlafenden Hund und füllt Peter Halm eine Doppelseite mit den Gesichtern schlafender Frauen.
Variationen, Wiederholungen, Versuche, Unfertiges: Das ist die Unmittelbarkeit, die Skizzenbücher über Jahrhunderte lebendig hält. Die Münchner Schau, in der die Skizzenbücher alle unerreichbar im Halbdunkel unter Glas aufgeschlagen liegen, der Besucher aber in einigen Faksimiles blättern bzw. auf Bildschirmen beim Aufblättern diverser Exemplare zusehen kann, zeigt an vielen Beispielen auch, dass Künstlerkladden oft zerfleddert und ausgeplündert worden sind.
Einzelne Blätter verändern ihren Charakter
Denn statt sie als Gesamtkunstwerk eigenen Rangs zu betrachten, wurden sie oft als eine Art Anhäufung schöner Einzelblätter aufgefasst, aus der man sich bedient. Im Klartext: Einzelne Zeichnungen sind herausgelöst. Nur so kann man sie verwerten, verkaufen, zeigen, im Rahmen ausstellen.
Die präsentierten Beispiele offenbaren aber auch: Das aus dem Arbeitsprozess isolierte Blatt verändert seinen Charakter, wenn die Aura des Skizzenbuchs fehlt. Etwas anders liegt der Fall bei den 36 einzeln gerahmten Blättern aus Franz Marcs letztem "Skizzenbuch aus dem Felde" von 1915.
Diese Entwürfe für nie realisierte Gemälde, die nichts Improvisiertes haben, sind als Wand-Installation Vermächtnis künstlerischer Zukunftshoffnung – Franz Marc starb 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg.
Die Ausstellung betrachtet Inhalte und das Skizzenbuch an sich
Wie Künstler sich ein Sujet aneignen, es betrachtend erkunden, abtasten, untersuchen: Darauf werfen die vielen Seiten der Skizzenbücher ein Licht. Diese Mitschrift ist leichthändig, manchmal aber auch angestrengt. Sie kann spielerisch sein, offen, beiläufig, ja banal – aber auch akademisch und durchgearbeitet.
Dass nicht nur der Inhalt, sondern das Ding Skizzenbuch in der Ausstellung betrachtet wird, ist erfrischend. Wir sehen alte Exemplare, in denen in einer Lasche griffbereit der Bleistift steckt, es gibt Schreibwaren-Kataloge aus der Zeit um 1900, die seitenweise Skizzenbücher in allen Formaten und Ausführungen auflisten – mit Leineneinbänden oder schlichtere aus Pappe.
Der heutige Kult um Notizhefte und Kladden – Stichwort Moleskine – und Bewegungen wie die weltweit aktive, draußen zeichnende Urban- Sketchers-Gemeinde künden vom ungebrochenen Reiz des Skizzenbuchs. Morgen eines beginnen? Warum nicht.
Bis 21. Mai. Zur Ausstellung ist im Deutschen Kunstverlag ein Katalog erschienen, der als Grundlagenwerk angesehen werden kann (39 Euro).
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