"Woyzeck" läuft ohne Unterlass und kommt nicht voran
Wieder hat Ulrich Rasche ein technoides Meisterwerk geschaffen. Eine gigantische Konstruktion steht im Münchner Residenztheater bei Büchners "Woyzeck".
Was ist der Mensch? Dieser Frage spürte nicht nur der Medizinstudent Georg Büchner nach, dieses Problem stellte der Dramatiker Büchner ins Zentrum seines Fragments „Woyzeck“. All seine Figuren suchen nach der Wahrheit. Was führt Woyzeck zum Mord an seiner Geliebten? Das Tierische im Menschen, die sozialen Umstände, die ihn zum Underdog machen oder gar die „Hirnwut“? Die heftige, fast expressionistische Szenenfolge, die das moderne Drama vorwegnahm, gibt keine Antwort. Ulrich Rasche inszenierte das Drama neu – und bot dem Residenztheater-Publikum eine soghaft faszinierende, ästhetisch anspruchsvolle und emotional fordernde Aufführung von fast dreieinhalb Stunden Spieldauer.
Doch diese, eine Übernahme aus Basel, war grandios in ihrer Synthese von Sprache, Bewegung und Musik. Selten konnte man sich so auf den atemlosen Text konzentrieren, dessen Sätze hier in einzelne Worte zerhackt, zerdehnt, manchmal beinah manieriert überakzentuiert werden. Zwischen den Schauspielern findet kaum Interaktion statt, denn Rasche, in Personalunion Bühnenbildner und Regisseur, hat wieder (wie für Schillers „Räuber“!) ein technoides Meisterwerk als Spielort entwickelt. Die gigantische Konstruktion, eine rotierende Scheibe, manchmal in atemberaubender Schräglage, sodass die Darsteller angeseilt spielen müssen, erinnert an ein architektonisch utopistisches Kunstwerk des russischen Konstruktivismus. Will man es banaler, weckt sie Assoziationen zur hölzernen „Unterwelt“ eines altmodische Fahrgestells vom Jahrmarkt. In diesem Räderwerk zählt das Individuum nichts, deshalb agieren alle in einheitlichem Schwarz, choreografiert wie Tänzer, mit hoch ausdifferenzierter Körpersprache.
Wie Versuchstiere rennen sie an gegen ein unvermeidliches Fatum, immer in Bewegung auf der glatten Drehscheibe, doch ohne Fortschritt – wie in der Mythologie Sisyphos. Es sind keine Identifikationsfiguren, dennoch wird ihre Tragik wie unter einem Brennglas deutlich. Eine Extremleistung für das Kollektiv (Nicola Mastroberardino und Franziska Hackl als Woyzeck und Marie, ebenso intensiv wie die gesamte Mannschaft), muss es doch häufig synchron im Gleichschritt, manchmal auch der Situation geschuldet individuell, präzise Bewegungen, komplexe Schrittfolgen in wechselnder Geschwindigkeit ausführen, dabei immer den Text zum Publikum sprechen – einzeln oder gar chorisch. Das alles ist von der Regie im dunklen Raum effektvoll in Szene gesetzt.
Doch den Takt dazu gibt die Musik vor, dem Rhythmus der sechs Live-Musiker müssen die Schauspieler folgen. Monika Roschers drängende Komposition mit ihren manchmal quälend aggressiv hämmernden Sequenzen erinnert immer wieder an Phil Glass Minimal Music – allerdings einige Frequenzen heftiger in der Lautstärke.
Weitere Termine am 9., 25. und 26. Februar im Residenztheater
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