Wunsiedel
Wunsiedel erzählt ein Künstler-Drama und ist für den Buchpreis nominiert.
Ausgerechnet Wunsiedel, am Rand der Republik, wer will da schon hin? Niemand. Auch Moritz Schoppe nicht. Er möchte die Mutter und seine erste Freundin nicht in der Heimat zurücklassen. Aber das Engagement bei den Luisenburg-Festspielen führt den jungen Schauspieler im Sommer 1964 dann doch aus Baden-Württemberg ins Fichtelgebirge.
Die zehn Wochen dort werden zum Drama und sollen den jungen Mann fürs Leben prägen. Als er 44 Jahre später wieder an diesen „Verfinsterungsort“ zurückkehrt und die Schauplätze von damals abschreitet, ist das ehemalige berufliche und private Unglück wieder präsent.
Michael Buselmeier (*1938), Schauspieler und Germanist, spielt in seinem Theaterroman „Wunsiedel“ mit der Zeit. Er verknüpft gekonnt Vergangenheit und Gegenwart. Er nimmt sich Zeit und erzählt seine Geschichte langsam, detailreich. Er lässt Wunsiedel zum „Wonnsiedel, Wohnsiedel, Waldsiedel, Wundsiedel“ werden. Der Leser begleitet den Ich-Erzähler auf Spaziergängen durch das Fichtelgebirge und ist bei Friedhofsbesuchen zugegen, bei denen der alte Moritz Schoppe vor den Gräbern seiner alten Intendanten steht – und unerwartet auch vor dem Grabstein von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß.
Erfahrungen schmerzen und stärken
Der Leser betritt zudem die Freilichtbühne, wo der junge Schoppe mit seinen Kollegen hart ins Gericht geht. Und er folgt ihm bis in die Dachkammer, wohin sich der Debütant zurückzieht, wenn er mit dem Leben nicht mehr fertig wird. Dort liest Moritz Schoppe auch den niederschmetternden Brief seiner Freundin Ulla, mit dem sie die Beziehung beendet, weil sie einen anderen liebt.
Fortan leidet der Schauspieler mit den Helden aus großen Theaterstücken und aus seinen Lieblingsbüchern mit. Er liest die Texte des in Wunsiedel geborenen Schriftstellers Jean Paul. Literatur und Poesie halten ihn am Leben und verhindern, dass er sich in einer Melange aus Weltschmerz, Depression, Liebeskummer, Sehnsucht und Heimweh etwas antut.
Wunsiedel ist ein unaufgeregter, vielschichtiger Roman, der es bis in die letzte Runde des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Er wirkt mitunter schwermütig – und ist doch auch ein lebenbejahendes, kraftvolles Buch. Moritz Schoppe scheitert zwar in Wunsiedel, doch der Ort wird auch eine wichtige Weggabel in seinem Leben. Die Erfahrungen aus zehn Wochen schmerzen und stärken ihn.
Nicht nur die Geschichte des Schauspielers nimmt gefangen. Buselmeier gibt auch ungewöhnliche und authentische Einblicke in die Theaterwelt. Und er erzählt von einer scheinbar weit entfernten Zeit, als die Welt sich langsamer drehte. Als noch nicht jeder Haushalt ein Telefon besaß, als noch in Bummelzügen gereist wurde. Als die Menschen sich noch Briefe schrieben und in Ungeduld ob der Antwort täglich den Postboten am Briefkasten abfingen. Und wenn sie das Warten nicht aushielten, schickten sie Telegramme. Buselmeier nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise über 158 Seiten – und spricht doch auch moderne gesellschaftliche Themen wie Überalterung und Landflucht an.
Michael Buselmeier: Wunsiedel. Ein Theaterroman, Verlag Wunderhorn in Heidelberg 2011, 158 Seiten, gebunden, 18,90 Euro
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