Yasmina Reza fragt: Wann ist ein Leben gelungen?
Die französische Autorin lässt in ihrem neuen Buch eine alte Schauspielerin Bilanz ziehen - ein faszinierender Monolog.
Wann ist ein Leben eigentlich gelungen? Egal, wie viel Ruhm und Reichtum man angehäuft hat, wie viel Liebe man bekommen und gegeben hat, immer nur dann, wenn man es selbst für gelungen hält. Anne-Marie, eine betagte Schauspielerin, hält ihres nicht für gelungen. Ihren Sohn nennt sie einen Mistfink. Ihren Mann, längst begraben, beschreibt sie als einen netten Langweiler, aber immerhin einer „ohne Geschichten.“ Und sie selbst? Keine große Karriere, vielleicht ein paar größere Momente, immerhin hat sie es hinaus aus der Provinz ans Theater nach Paris geschafft, nun liegt das alles hinter ihr. Cashewnüsse helfen die Einsamkeit in der abbezahlten Dreizimmerwohnung zu ertragen.
Yasmina Reza holt die alte Frau ins Rampenlicht
Yasmina Reza ("Kunst", "Der Gott des Gemetzels") stellt in ihrem neuen Werk „Anne-Marie die Schönheit“ jene alte Schauspielerin auf 80 Seiten noch einmal ins Rampenlicht. Lässt sie zurückblicken, mal das Leben zu ihrem Vorteil ausschmücken, ein bisschen nachschönen, dann wieder mit mitleidloser Härte sezieren. War das alles genug, reicht so ein bisschen Liebe und so ein bisschen Erfolg? „Es heißt, die glücklichsten Leben sind diejenigen, in denen nicht viel passiert...“ Aber was, wen man mehr wollte? Im Interview mit einer Journalistin bleibt Anne-Marie ihrer Lebensrolle treu: Nebendarstellerin. Größer, spannender, erfolgreicher war das Leben der Kollegin und Freundin Giselle Fayolle, die mit einer Miene, als ob ihr alles egal sei, stets alles abräumte: Rollen, Männer. „So eine matte Lässigkeit habe ich auch einmal probiert“, erzählt Anne-Marie, „aber lässig wirken kann nicht jeder.“
Lässig – das ist auch dieses kleine Stück Literatur und die große Kunst der Schriftstellerin Yasmina Reza. Die Dramen des Alltags sind bei der Französin auch immer Komödien, der Schrecken schön abgepolstert mit Ironie und Witz. Was aber vor allem unglaublich lässig ist: Wie Yasmina Reza ihre feinen Alltagsbeobachtungen in Poesie verwandelt, mit einer großen Beiläufigkeit tiefgründig erzählt. „Wenn man nicht mehr die Königin des Festes ist, Mademoiselle, fühlt man sich im Nu vergessen“, bemerkt Anne-Marie.
Nur war sie nie die Königin, das war stets Giselle, die Kollegin, der sie bei ihrem ersten Engagement in Paris begegnete, bevor die vom Film entdeckt wurde, ihr großes Leben lebte. Als sich die beiden Kolleginnen im Alter wiedertreffen, was zählt das alles noch. Ob die eine Affären mit Alain Delon und Ingmar Bergman hatte und die andere mit einem Vertreter von Lederwaren, am Ende ist die eine bedürftiger als die andere und klagt: Die Tochter werfe ihr Luftküsschen aus sicherer Entfernung zu, als hätte sie sich die Visage mit Jauche eingerieben.
Reza begegnet ihrer Figur mit großer Zärtlichkeit
In solchen Passagen zeigt sich der gewohnt scharfe Witz von Reza. Ihrer Anne-Marie begegnet die Schriftstellerin aber vor allem mit großer Zärtlichkeit. Vielleicht auch deswegen, weil sie beim Schreiben stets an einen Freund dachte. Der Schauspieler André Marçon hatte ihr erzählt, er träume davon, einmal eine Frauenrolle zu spielen. „Anne-Marie die Schönheit“ ist für ihn geschrieben, das Stück feiert im März in Paris Premiere. Aus diesem Grund erschien das Buch nun auch zuerst auf Deutsch: Eine kleine Preziose! „Ich sehe das Leben wie einen großen Bogen“, erzählt Anne-Marie: „Du steigst auf, und wenn du wieder absteigst, nimmst du deine ursprüngliche Form wieder an, kleinkariert, mit hängenden Ohren.“
- Yasmina Reza: Anne-Marie die Schönheit. A.d. Französischem von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser-Verlag, 80 S., 16 €
- Lesen Sie hier auch die Besprechung von Yasmina Rezas Roman "Babylon".
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