Man kennt das aus der eigenen Verwandtschaft. Kommen Männer in ein gewisses Alter, oft gepeinigt von allerlei Wehwehchen und Gebrechen, werden sie mitunter ungeduldig, anstrengend, verbittert und knurrig. Was die Herren in dieser Situation brauchen, ist eine gern jüngere, gern zupackende, auch gern weibliche Person, die sie in den Arm nimmt, ihnen aber auch in den Hintern tritt, sich also der Antriebslosigkeit des Alternden konsequent in den Weg stellt. So geschehen nun Elton John.
Denn er, jüngst 78 geworden und einer der größten Sänger, Komponisten und Pianomänner der Popgeschichte, leidet an schwindender Sehkraft, hat eine zweite Hüfterneuerungsoperation hinter sich, ein frisches Knie musste zuletzt auch sein. Nach dem wirklich allerletzten Konzert seiner sehr langen finalen Tournee am 8. Juli 2023 in Stockholm hatte der Engländer, der in seiner mehr als ein Halbjahrhundert andauernden Karriere 32 Studioalben veröffentlichte, plötzlich nicht mehr viel zu tun. Er lungerte zu Hause herum, nervte Ehemann David Furnish und die beiden halbwüchsigen Söhne, fünfzehn und zwölf. Eine Autobiografie („Me“) liegt vor, ein ziemlich weichgespültes Biopic für so ein drogengetränktes (seit 1990 ist er clean), auch sexuell süffiges Leben ebenfalls („Rocketman“). Zuletzt im Herbst erschien ein Abschieds-und-Rückblicks-Dokumentarfilm („Never Too Late“), was bleibt da noch übrig? Eine Anschlussverwendung musste her. Hier betritt Brandi Carlile die Szene.
Brandi Carlile hat Elton John zum neuen Album angeschoben
Carlile ist 43, US-Singer-Songwriterin mit Schwerpunkt Alternative-Country und Americana. Sie ist lesbisch, elffache Grammy-Gewinnerin, seit langer Zeit bestens mit Elton John befreundet und charakterlich auf der freundlich-entspannten Seite des Spektrums angesiedelt. Die beiden haben sich gemeinsam mit dem Produzenten Andrew Watt, der seinerseits ebenfalls sehr sympathisch sein soll und zuletzt die Rolling Stones mit „Hackney Diamonds“ aus der Irrelevanz rettete, in den Sunset Studios zu Los Angeles zusammengefunden und mit „Who Believes in Angels?“ ein Album eingespielt, das gelungener nicht hätte geraten können. „Sie hat mich stärker angeschoben als ich sie“, sagt Elton John in der albumbegleitenden Youtube-Doku, während Carlile – die bereits Joni Mitchell nach ihrem Aneurysma erfolgreich auf die Bühne zurückgeholt hat - dem Guardian verriet, dass John einmal im Studio vor Frust sein iPad auf dem Boden zerschmettert und „ein paar Mal definitiv Grenzen übertreten“ habe. Mittendrin hockte Bernie Taupin, Eltons jahrzehntelanger genialer Cheflyriker, er hat meist die besonnene Position eingenommen.
Aber wenn die Funken so richtig fliegen, bedeutet es nicht nur Zerstörung, sondern auch Schöpfung. Zehn Songs haben sie zusammen gemacht, alle anders, alle wundervoll. „The Rose Of Laura Nyro“, die erste Nummer, startet fulminant pfeffrig mit Gitarre und Piano, erst nach zwei Minuten setzt Gesang ein, die Stimmen der beiden klingen auf Anhieb topharmonisch, als würden sie sich beim Singen aneinander wärmen. Man fühlt sich fürsorglich in die Siebziger versetzt, denkt an „Funeral For A Friend/ Love Lies Bleeding“ oder an „Candle In The Wind“ und wünscht sich ob der Grandiosität des Ganzen, die zwei würden vielleicht doch noch mal ein paar Stadien bespielen.
Mal steht auf „Who Believes in Angels?“ die Gitarre im Mittelpunkt, mal das Klavier
„Little Richards Bible“ ist, der Titel lässt es erahnen, feister Boogie-Woogie-Soul, und beim prallen, juvenil knusprigen „Swing For The Fences“ könnte man vermuten, einige Stones würden mitspielen. Was nicht der Fall ist. Aber ein paar aktuelle und ehemalige Red Hot Chili Peppers (Chad Smith, Josh Klinghoffer) sind am Start. Es gibt einige herzig-berührende Balladen wie „Never Too Late“ und das von Carlile solo gesungene „You Without Me“, mal steht die Gitarre, mal das Piano im Zentrum. Das Titellied „Who Believes in Angels?“ ist eine dieser gigantischen Pianonummern, mit denen es Elton John zum erfolgreichsten Solokünstler in der Geschichte der amerikanischen Billboard-Charts brachte.
„Someone To Belong to“ ist ein Popsong epischer „König der Löwen“-Güte, und das ostentativ optimistische „A Little Light“ entstand nach einem Wutanfall-Frühstück Elton Johns angesichts der deprimierenden Israel-Gaza-Gesamtsituation, gefolgt von einer letztlich erfolgreichen Brandi-Beschwichtigung. Das Grande Finale gebührt Elton allein. „When This Old World Is Done With Me“ mit Taupin-Textperlen wie „Wenn ich meine Augen schließe, lass mich los wie eine Meereswelle. Gib mich der Flut zurück.“ So weit ist es noch nicht. Elton John ist älter geworden und angeschlagener, aber wer ihn etwa jüngst auf der Bühne des Londoner Palladiums beim One-Night-Only-Konzert nebst Plausch mit Carlile erlebte, der sah einen vitalen und munteren Mann, dessen neues Album von erheblichem Wert für die Lebenszufriedenheit sein dürfte.
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