Ein alter Showbusiness-Spruch lautet: Beginne deine Show mit einem Knalleffekt – und steigere dich von da an kontinuierlich. So starteten die Stones ihre Auftritte gerne mit viel Einsatz von Pyrotechnik, ließen AC/DC eine Glocke dröhnen, stürzte Pink sich (angeseilt) vom Bühnendach. Bruce Springsteen kultiviert seit Jahrzehnten den Gegenentwurf, den unspektakulären Konzertauftakt. Erst schlendern nacheinander die Mitglieder der E-Street-Band auf die Bühne, zu guter Letzt erscheint der Boss, grüßt freundlich in die Runde und zählt „A one, two, three, four“ ein – und los geht der wilde Ritt.
Auf seiner derzeit laufenden Europa-Tournee hat Springsteen dieses Ritual noch weiter entschleunigt. Bevor der erste Ton erklang, hörte also auch das Publikum in Berlin erst einmal eine politische Rede. Bruce Springsteen sprach Klartext. „Das Amerika, das ich liebe und über das ich so lange gesungen habe … ist derzeit in den Händen einer korrupten, unfähigen und verräterischen Regierung.“ Und weiter: „Heute Abend bitten wir alle, die an Demokratie und das Beste aus unserem amerikanischen Experiment glauben, mit uns aufzustehen, eure Stimmen zu erheben, mit uns gegen den Autoritarismus zu stehen.“
Bruce Springsteen gibt im Berliner Konzert eine Ansprache mit deutschen Übertiteln
Damit setzte der Boss den Ton für den Abend im Olympiastadion. Viele der 29 Songs in der Setlist konnten als politischer Kommentar gedeutet werden. Mal weniger, mal mehr, mal ganz offensichtlich. „Twist and Shout“ ist natürlich nicht mehr als ein simpler Gute-Laune-Macher. „Rainmaker“ dagegen spielt auf die Demagogen dieser Tage an, indem es von dem Scharlatan erzählt, der Dürre geplagten Landwirten den Regen verspricht. In „House of a Thousand Guitars“ wird die Textzeile lautstark bejubelt, in der es heißt, ein krimineller Clown sitze nun auf dem Thron.

Damit die Botschaft unmissverständlich rüberkommt, lässt Springsteen bei einigen Songs eine deutsche Übertitelung auf den gigantischen Videowänden mitlaufen. Auch eine weitere, fünfminütige Ansprache zur Mitte des Konzerts gibt es in Deutsch zum Mitlesen. Ein Beweis, dass Springsteen nicht spontan aus einer Laune heraus redet. Sein Text ist sorgfältig vorbereitet, die Worte genau gewählt. Fast flehentlich bittet er darum, daran zu glauben, dass es dieses großartige Land USA, von dem er in seinen Liedern seit 50 Jahren schwärmt, immer noch gebe.
Bruce Springsteen tritt in Berlin als der Botschafter des guten Amerikas auf
Ob das allen im Publikum klar ist? Ob es sie kümmert? Natürlich nicht. Nach dem Konzert, in der U-Bahn, sind auch Stimmen zu hören, wie „So viele Ansprachen hätte es nicht gebraucht“. Aber insgesamt überwiegt die Zustimmung deutlich. Springsteen tritt auf als Botschafter eines anderen, guten Amerikas, einem Land, nicht ohne Fehler. Aber trotz allem immer noch ein „Land of Hope and Dreams“, ein Land der Hoffnungen und Träume, so ein Songtitel, so das Motto dieser Überzeugungs-Tour durch Europa.
Der Mann, dessen Namen Springsteen kein einziges Mal ausspricht, hat den Boss als „weit überschätzt“ und als „Dörrpflaume“ abgekanzelt. Es gibt Menschen, die ihm zustimmen. In den USA hat Springsteen wohl Fans verloren. Sein Gitarrist und Kompagnon Steven van Zandt glaubt sogar, dass ihnen in der Heimat die Hälfte des Publikums den Rücken gekehrt habe.

In Europa ist davon nichts zu spüren. In England und Frankreich, auf den ersten Stationen der Tour, waren die Arenen voll. Genauso das Olympiastadion in Berlin. Und auch für die beiden anderen Auftritte in Deutschland, in Frankfurt und Gelsenkirchen, gibt es keine Tickets mehr.
Der Boss versteht es auch im Berliner Olympiastadion, Emotionen zu wecken
Hierzulande funktioniert die Show auch für jene, die den Polit-Faktor hintanstellen oder ignorieren. Der inzwischen 75-jährige Springsteen ist ein Showbiz-Profi, einer der seit Jahrzehnten das Spiel in den Arenen beherrscht. Einer, der es versteht, Emotionen zu wecken. Einer, der Schweiß, Tränen und Gänsehaut im Repertoire hat. Einer, der wenn man glaubt, jetzt lasse sich das Level der Euphorie nicht mehr steigern, immer noch ein Ass aus dem hochgekrempelten Ärmel zaubert. Einer, bei dem die langjährigen Fans lautstark zustimmen, wenn es in „Thunder Road“ heißt „We ain’t that young anymore“ – wir sind nicht mehr so jung. Einer, dem das Publikum letztlich auch den teils suboptimalen Stadion-Sound verzeiht. Weil er für alle was bietet: Hits für die Durchschnittsfans, Raritäten für die Kenner. Und so wird zum Beispiel das eher weniger geläufige „My City of Ruins“ zu einem elegischen Höhepunkt im fast dreistündigen Programm.

Am Ende der Show verabschiedet Springsteen seine Anhänger mit einem Song einer anderen amerikanischen Legende: „Chimes of Freedom“, die Glocken der Freiheit, von Bob Dylan geschrieben, widmet er all jenen, die schon dabei waren, als der junge Bruce 1988 als einer der wenigen westlichen Künstler im damaligen Ost-Berlin auftreten durfte. Ein Konzert, das in die Geschichtsbücher einging.
In der britischen Ausgabe des Magazins Rolling Stone stand in einem Artikel über das Springsteen-Gastspiel vergangene Woche in Liverpool, es sei ihm an dem Abend gelungen, das Leben derer im Stadion zu verändern. In der Euphorie des Moments wohl etwas zu hoch gegriffen. Aber ob Liverpool oder Berlin oder sonst wo: Niemand wird einen Abend mit Bruce Springsteen vergessen. Auch wenn die Show nicht mit einem großen Knall begonnen hat.
Die Setlist des Berliner Konzerts
Ghosts; Land of Hope and Dreams; Death to my Hometown; No Surrender; Two Hearts; Out in the Street; Lonesome Day; Rainmaker; The Promised Land; Hungry Heart; The River; Youngstown; Murder Incorporated; Long Walk Home; House of a Thousand Guitars; My City of Ruins; Because The Night; Wrecking Ball; The Rising; Badlands; Thunder Road; Born in the USA; Born to Run; Seven Nights to Rock; Bobby Jean; Dancing in the Dark; Tenth Avenue Freeze-Out; Twist and Shout; Chimes of Freedom.
Möge sein Engagement gegen die beiden Irren Trump und Vance Erfolg haben, bevor deren Wunsch, die Gesellschaft noch mehr zu spalten bis hin zum Bürgerkrieg, in Erfüllung geht. Interessant ist, dass Trump einen Bürgerkrieg nicht will, den Namen aber doch in den Ring wirft.
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