Gegenüber Herbert Blomstedt, der 97-jährig vor ein paar Tagen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Herkulessaal hätte dirigieren sollen, aber nicht etwa durch Indisposition ausgebremst wurde, sondern durch eine defekte Haus-Technik, gegenüber Blomstedt ist Kollege Simon Rattle gewissermaßen ein Youngster: Vollendete 70 Jahre jung an diesem Sonntag (19. Januar), weiter markenzeichenhaft und zweifelsfrei kenntlich auch in Rückenansicht aufgrund seiner Silberlockenmähne, so leidenschaftlich engagiert für Musik von Niveau, wie man dies von einem Dirigenten erwarten kann und muss, der als eine Art Musikdirektor des Freistaats Bayern gelten darf.
Den Titel gibt es zwar nicht; auf solchen Einfluss aber läuft es hinaus, wenn zu Rattles Autorität auch seine natürliche, nahezu tägliche Dirigierpräsenz im Bayerischen Rundfunk (live oder per Mitschnitt) gewogen wird, wo er seit 2023 – nach soundsoviel Gastauftritten – als Chefdirigent mit weitestem Horizont wirkt. Gewiss, auch Rattle, einst ein fulminanter Schlagzeuger, ist ruhiger geworden, ruhiger im Sinne von gelassen, abgeklärt, souverän. Doch von seinen Überzeugungen rückt er kein Jota ab: die Einbindung Alter und Neuer Musik in seine (Abonnements-)Konzerte, überhaupt die geistvolle Verknüpfung großer Werke bei forcierter Vermittlung gegenüber der Nachwuchshörerschaft. Neulich kombinierte er in Münchens Isarphilharmonie unerhört erhellend Wagner mit Ligeti und Wagner mit Webern. Auf so was kommt’s an.
Tut es Simon Rattle seinem Vorgänger Mariss Jansons nach?
Nun also wird Rattle, 1994 durch die Queen zum Sir Simon geschlagen, 70. Und drumherum verquicken sich alle guten und stark verbesserungsbedürftigen Gegebenheiten Münchens, weil er diese Woche ja zusätzlich zum nächsten Musikpreisträger der Ernst von Siemens Stiftung gekürt wurde. 250.000 Euro Preisgeld, renommierteste Vorgänger, mehr kann man sich nicht wünschen. Allenfalls noch den japanischen Praemium Imperiale, eine Auszeichnung, die auch noch kommen kann. Jedenfalls kreisen zum Doppelfest die Gedanken nicht nur in der Landeshauptstadt. Der zweite Chefdirigent des BR-Symphonie-Orchesters, der den Siemens-Musikpreis erhält! Wird er die Dotierung womöglich ebenso wie sein Vorgänger Mariss Jansons (Verleihung 2013) für das künftige BR-Konzerthaus respektive den künftigen BR-Konzertsaal stiften wollen? Warmherzig genug wäre er, und die Situation an der Isar ist ja eher noch schlechter geworden: Gasteig geschlossen, Herkulessaal bezeugt marode, die Isarphilharmonie, so gut sie klingt und auch optisch was hermacht, vor allem hinter der Bühne ein Provisorium.
Dabei sind für Rattle in Aussicht genommene neue Konzertsäle schon ein Kreuz – nachdem er 2018 das andere deutsche Spitzenorchester, die Berliner Philharmoniker, verlassen hatte. Nach London ging er damals, auch in der Hoffnung, das versprochene Konzerthaus fürs London Symphony Orchestra zu befördern und einweihen zu können. Der Gentleman Rattle, der ein so wohlklingendes Oxford-Englisch spricht, wie das einem ehemaligen Oxforder Studenten der englischen Sprache und Literatur eben geziemt, musste gewahr werden, dass sich die Staats- und Regional-Politik seiner Heimat in mehrerlei Hinsicht nicht gentlemanlike benimmt. Enttäuscht tauschte der Wahlberliner und Ehegatte von Mezzosopranistin Magdalena Kozená das London Symphony Orchestra gegen das Orchester des Bayerischen Rundfunks, London gegen München. Aber nun hat er wieder zu kämpfen für einen Konzertsaal auf extrem langer Bank. Ob aktuell Berlin, ob aktuell München, ja ganz Bayern mit seinem Sanierungsstau bei den Kristallisationsstätten von Kultur: Ob Geduld da überhaupt noch weiterhilft?
Rattle, der Brückenbauer im Kulturwettstreit München-Berlin
Wenn Simon Rattle am 17. Mai in München den Siemens Musikpreis offiziell erhält, dann wird auch ein Dirigent ausgezeichnet, der eine Brücke schlug im uralten Kulturwettstreit von Berlin und München. Hier wie dort stand er an der Spitze – und zwischen 2003 und 2012 auch als künstlerischer Leiter der Osterfestspiele Salzburg, wo er sich 1999 mit einem fabelhaft schönen Dirigat von Rameaus Oper „Les Boréades“ empfahl. Das aristokratisch Barocke, die Innovationen zeitgenössischer Musik: Beides – und vieles dazwischen – liegt dem in Liverpool Geborenen, der die entscheidenden Erfahrungen für die große, weltweite Reputation beim City of Birmingham Symphony Orchestra gemacht hat. Doch vor dem 17. Mai wird er in München unter anderem noch Mozarts drei späte Sinfonien (6./7. Februar), das Brahms-Requiem (13./14. Februar) und Pierre Boulez (22. März) dirigieren.
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