Diese Oper ist kein Stück wie jedes andere. Es geht hier nicht um den einen Helden oder um zwei, drei zentrale Figuren, an denen sich das Drama entfaltet. „Chowanschtschina“ von Modest Mussorgski hat mehr als ein halbes Dutzend Protagonisten zu bieten, auf die mal mehr, mal weniger Licht fällt in den fünf Akten, die jeweils eigene, nur lose miteinander verbundene Geschichten erzählen. An historischen Ereignissen orientiert, thematisieren sie das Verhältnis von einfachem Volk und Machthabern im Russland des späten 17. Jahrhunderts, jener Epoche, als Zar Peter I. die Macht an sich riss und sich daranmachte, das rückständige Reich auf rücksichtslose Weise von oben zu revolutionieren. Eine Zeit, der Unruhen vorausgingen, etwa der Aufstand der Strelitzen, einem zur eigenen Macht im Zarenreich herangewachsenen stehenden Heer. Damals entspann sich auch jene Intrige der Fürsten Chowanski, abschätzig die „Chowanschtschina“ (in etwa: die Chowantschinerei) genannt, die Mussorgski seiner Oper zum Titel gab.
Jahre hindurch verbrachte der Komponist, der selbst das Libretto verfasste, mit der Ausarbeitung der Oper, fertig wurde er damit nicht. Als Mussorgski 1881 starb, fehlte die Instrumentierung, an der sich später so berühmte Kollegen wie Rimski-Korsakow, Strawinski oder Schostakowitsch versuchten. Bei den Salzburger Osterfestspielen, wo „Chowanschtschina“ jetzt eine Neuinszenierung im Festspielhaus zuteilwurde, entschied man sich für eine Mischfassung, die in der Hauptsache auf Schostakowitsch setzt und das Finale von Strawinsky übernimmt, überdies noch kleinere, eigens für Salzburg hergestellte Implantate von Gerard McBurney einfügt.
Schon Mussorgski zielte mit dem Stoff auf die Gegenwart
Das ausgesprochen blutige Ringen gegenläufiger Interessen im alten Russland hatte Mussorgski keineswegs als bloßen Blick in die Geschichte interessiert. „Die Vergangenheit in der Gegenwart, das ist meine Aufgabe“, notierte er. Zielte das auf die Gegenwart Mussorgskis, die zaristische Herrschaft des späten 19. Jahrhunderts, so erweist sich das Ansinnen heutigentags, knapp eineinhalb Jahrhunderte später, als keineswegs aus der Zeit gefallen. Im Gegenteil, so sehr ist unsere Gegenwart ein Spiegel von Machtgier und Unterdrückung, dass der Regisseur der Salzburger „Chowanschtschina“, Simon McBurney, szenisch keineswegs plakativ werden muss, um deutlich zu machen, wer da mit all dem Geschachere und Gemetzel der Opernhandlung gemeint sein könnte. Das heutige Russland natürlich – aber nicht nur; sondern alle Weltgegenden, in denen Despoten nach Gutdünken walten (der stumme Strelitze, der in McBurneys Inszenierung eine Stierhörnermütze trägt, weist hinüber nach Amerika, wo beim Sturm aufs Kapitol dieselbe Kopfmaskerade zu sehen war).
Wer über solche Soldateska verfügt, hat Macht über Leben und Tod. So wie Fürst Iwan Chowanski, der Anführer der Strelitzen, die mit Schlagstöcken und Maschinenpistolen –dergleichen als moderater Ausstattungshinweis (Bühne: Rebecca Ringst/Kostüme: Christina Cunningham) auf die Aktualität des historischen Geschehens – das einfache Volk auf Moskaus Straßen terrorisieren. Vitalij Kowaljow gibt diesem Iwan Chowanski überragende Kontur: Sängerisch durch eine Bassstimme, die sich als flüssiges Erz verströmt, darstellerisch durch jene raubtierhafte Jovialität, wie sie die absolute Gewaltverfügung hervorbringt. So etwas wie Befriedigung verschaffen diesem Fürsten nur noch künstliche Paradiese – der zur Rauschgift-Halluzination umfunktionierte Tanz der persischen Mädchen gehört zu den atemraubenden Momenten der Inszenierung.
Eine Idealpartie für Nadezhda Karyazina
Für Männer wie ihn sind Frauen bloße Objekte. Da tickt auch der Chowanski-Kontrahent Fürst Golizyn nicht anders, wenn er die Altgläubige und Wahrsagerin Marfa zu sich bestellt und sie schamlos befingert, um ihr später einen Totschläger hinterherzuschicken. Doch Marfa – eine große Altpartie, die Nadezhda Karyazina überwältigend oszillieren lässt zwischen Liebeswahnsinn und Magdalenenbüßertum, heidnischer Zauberkraft und christlicher Glaubensfestigkeit –, diese Marfa überlebt den Anschlag nicht nur, sie ist auch dem Chowanski-Sohn Andrej (Thomas Atkins) verfallen, der wiederum eine andere haben will, und sei es mit Gewalt. Die menschlichen Beziehungen, das zeigt Mussorgski wie auch McBurney, sind gestört in solchen Gewaltkulturen.
Eine Oper wie „Chowanschtschina“ braucht überzeugende Sängerdarsteller, und die Osterfestspiele haben sie auch in den weiteren Partien. Vom charismatischen Altgläubigen-Führer Dosifei (bassgewaltig: Ain Anger) über den wendehalsigen Bojaren Schaklowity (Daniel Okulitch als rollentypischer Bariton-Unhold) bis hin zum Chor: Genauer gesagt den Chören, bringt „Chowanschtschina“ doch sehr verschiedene Gruppierungen auf die Bühne, und dem Slowakischen Philharmonischen Chor wie auch dem Salzburger Bachchor, ob als lärmende Strelitzen, als endzeitbewusste Altgläubige oder schlicht als geschundenes Volk, gelingen die Charakterisierungen hervorragend.
In dieser Intendanz die eindrucksvollste Inszenierung
Esa-Pekka Salonen ist der Dirigent, der Mussorgskis Oper in Schostakowitschs tönendem Gewand in ein nie nachlassendes Spannungsgeschehen verwandelt, der mit dem ausgezeichneten Finnischen Radio-Sinfonieorchester ein ungemein suggestives Klangtableau dieser Musik, ihrer Unruhe, ihrer Düsternis, ihrer herben Schönheit entwirft. Ganz wesentlich durch Salonen wird „Chowanschtschina“ zur eindrucksvollsten Osterfestspiel-Produktion unter der bisherigen Intendanz von Nikolaus Bachler.
Der hatte, nach dem Weggang von Christian Thielemann mitsamt dessen Dresdner Staatskapelle, zuletzt einige Jahre auf wechselnde Dirigenten und Orchester gesetzt. Damit ist jetzt Schluss. Vom kommenden Jahr an kehren die Berliner Philharmoniker, unter Karajan Gründungs- und jahrzehntelang Residenzorchester, zurück nach Salzburg, nachdem sie 2013 unter Simon Rattle in Richtung Baden-Baden abgewandert waren. 2026 also ein Zurück-zu-den-Wurzeln unter Chefdirigent Kirill Petrenko und dann auch wieder in Residenz, zunächst mit einem über mehrere Jahre verteilten Großprojekt, Wagners „Ring“ (Regie: Kirill Serebrennikov). Ostern in Salzburg bleibt spannend.
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