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„Exportschlager“ in Augsburg: Ein Liederabend von Schubert bis Tim Toupet

Staatstheater Augsburg

Ballermann auf der Brechtbühne: So klingt „Saufen“ als Arie

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    Sänger am Sangriakübel (v.l.n.r.): Wiard Witholt, Luise von Garnier, Elke Kottmair, Natalya Boeva und Claudio Zazzaro in der Inszenierung „Exportschlager“ am Staatstheater Augsburg.
    Sänger am Sangriakübel (v.l.n.r.): Wiard Witholt, Luise von Garnier, Elke Kottmair, Natalya Boeva und Claudio Zazzaro in der Inszenierung „Exportschlager“ am Staatstheater Augsburg. Foto: Jan-Pieter Fuhr

    Es gibt Einfälle, die geistreich sind – aber trotzdem wie eine Schnapsidee klingen. Zum Beispiel die Idee, die Simon Mack im Jahr 2021 hatte: Mack ist klassischer Komponist, außerdem Dozent an den Musikhochschulen in Innsbruck und München. Damals betrieb er schon einen Kanal auf Youtube, in dem er Lernvideos für klassische Sänger hochlud. Aber was er dann eines Tages seinen gut 37 Kanal-Abonnenten vorsetzte, würde die Fachwelt schockieren. „Ballermannhit ,Saufen´ als barocke Arie“. Ein Tenor singt da mit versteinerter Miene „morgens, mittags, abends, ich will saufen“. Diese Zeilen hat der Malle-Mozart und Partyhit-König Ingo ohne Flamingo gedichtet – doch im Video spielt dazu versonnen ein Konzertflügel, eine Musik wie aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“. Knallerschlager trifft Kunstlied.

    Um das Video bildete sich eine wild gemischte Fangemeinde: Ballermann-Partytouristen liebten den Remix, aber eben auch Klassikliebhaber und Musikstudenten. „Man kann das Hanswurstige in der Kunst sehr ernst nehmen, wenn man möchte“, sagt Simon Mack heute. 1,4 Millionen Klicks hat sein „Saufen“-Clip gesammelt, und Mack hat inzwischen ein ganzes Singspiel aus Mallorca-Liedgut gedichtet. Das Staatstheater Augsburg zündet mit Macks Stoff jetzt, inszeniert von Elsa Vortisch, einen abend- und sangriaeimerfüllenden Liederabend. Fünf klassische Sänger singen auf der Brechtbühne von Vollmond-Vollrausch und Superhupen. Und das Publikum? Lässt sich voll auf den Rausch ein.

    Von Bayreuth zum Ballermann: „Exportschlager“ am Staatstheater Augsburg

    Sie ist die Heldenfigur dieses Singspiels: Elira Ebbe-Sand, eine Gesangsprofessorin mit Perlenkette und dicker Brille. Diese Frau verfolgt ein Lebensziel, sie wirbt dafür, dass die Unesco das deutsche Liedgut zum immateriellen Kulturerbe ernennt. „Dieses Liedgut muss geschützt werden“, sagt sie und vermutet: Der Weg ins Herz der Jury führt über Bayreuth direkt zum Bierkönig. Denn das Kunst- und Volkslied muss wieder dichter ran ans, nun ja, Volk. Und im Sommer sind nicht wenige Bundesbürger ... auf Malle. Die Kulturerbe-Jury kündigt ihren Besuch an, deshalb braucht Ebbe-Sand jetzt Unterstützung. Vier ihrer besten ehemaligen Gesangsstudenten versammelt sie für die große Werbeshow. Sopranistin Elke Kottmair spielt diese Gesangsprofessorin mit mütterlicher Haltung, Witz und Herz – und bald singt sie, in einem stillen Moment, eine Weise nach Wolfgang Petry: „Ich krieg‘ nie genug und muss dich wieder seh‘n.“ Denn ihre Liebe gehört heimlich dem „Ballermann, mein Herz liegt noch am Ballermann“.

    Zuerst sträubt sich ihr Musterstudent Jansen (Wiard Witholt), der Bariton wehrt sich gegen den Schmuddel der Partyschlager. Aber dann lässt er es doch frei nach Bach laufen, singt vom Saufen, „morgens, mittags, abends“, fühlt sich am Ende „Voll wie der Mond“ (Text nach Mütze Katze, klingt romantisch nach Brahms). Ein Sänger, ein Pianist, lauschende Ohren, das Kunstlied empfinden viele als intime Form. Intim wird es auch auf der Bühne in Augsburg: Für seine Lehrerin singt der Charmebolzen Signore Rossi (Claudio Zazzaro) eine anzügliche Arie. „Superhupen“, beim Gedanken an seine Geliebte müsse er immer an ... ein Auto denken. Und die Frauen? Im Duett singen die Erzfeindinnen Frau Weinberger (Luise von Garnier) und Frau Wellenstein (Natalya Boeva) von Männern, die maßlos übertreiben. Sie wandern durchs Publikum, vorbei an lachenden oder schamroten Gesichtern und klagen an: „Das sind nie 20 Zentimeter, nie im Leben kleiner Peter.“

    Das Staatstheater Augsburg führt Simon Macks Singspiel auf

    Im Saal bricht lautes Lachen aus, weil das Quintett so viel Ernst wie Spielfreude verströmt, die Schamgrenze von Bayreuths grünem Hügel bis auf Ballermann-Gürtellinie absenkt. Flirten, schimpfen, schmutzige Sprüche erklingen in goldenen Tönen: In sauberer Renaissance-Motetten-Manier singt das Quartett „Wir sind alle gestört, aber geil.“ Die feineren Insider-Gags serviert am Klavier Annalena Hösel, die immer wieder Klassik-Zitate als Pointen in die Show streut und trotzdem dienlich begleitet.

    Flair schafft die Kulisse: Eine Strandbar-Bude mit Disco-Kugel, dazu Kostüme mit Glitzerfummel und umgeschnallten Aufblas-Flamingos. Der schrägste Gag aber: Eine Insel mitten auf der Bühne, genauer eine Blumentopf-Palmeninsel, die wie von Geisterhand über den Boden schwebt. Obenauf stellt sich wie ein Kapitän an der Palme: Claudio Zazzaro. Mit Schmelz singt er von seiner heimlichen Zweitexistenz: Knusprig braun sei er, das lieben die Frauen, denn: „Ich hab ne Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner.“ Das Publikum ist für Augenblicke schockverliebt in diesen Imbissbuden-Gigolo, der sich sein Herz aus der Seele und dem Magen singt.

    Süffiges vergnügen: „Exportschlager“ verbindet Malle mit Mozart

    Glucksen, prusten, grinsen im Publikum. Der Abend reizt die Lachmuskulatur, auch gegen den inneren Widerstand des Anstands. Die Dialoge der Show streifen aber auch beiläufig die Nebenwirkungen der Trinkliedkultur: Sie mit den Superhupen, er mit nicht ganz 20 Zentimetern? Ist das noch Gleichberechtigung im Balzverhalten oder schon objektivierender Sexismus. Und kurz sinkt die Temperatur im Raum, Herr Jansen warnt, dass in dieser singenden Versaufbrüderung auch immer Gefahr lauert – Sylt im Sommer 2024, ein betrunkener Touristen-Mob singt „Ausländer raus“.

    Zur Premiere haben sich doch mehr Staatstheater-Abonnenten als Mallorca-Flugmeilensammler im Saal eingefunden. Vermutet man – oder ist das alles wieder nur Klischee? Ist das unvereinbar? „Bei Stimmungsschlagern rümpfen wir als Kulturbürger vielleicht die Nase und wollen zumindest nicht offen zugeben, dass wir einen primitiven Songtext ansprechend und lustig finden“, schreibt Komponist Mack im Programmheft. Nonsens kollidiert mit Ernst, Witz entsteht durch Reibung, und damit ist das Grundkonzept des Formats auch schnell auserzählt. Trotzdem füllt die Idee einen ganzen, lustigen, süffigen, ja vollen Abend. Bis zum Eichstrich des Sangriakübels.

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