Wenn noch einer den Beweis erbracht haben möchte, dass Gerhard Richter nicht nur als Maler und Objektkünstler, sondern auch als Zeichner das Publikum zieht, der möge die laufende Ausstellung in Münchens Pinakothek der Moderne besuchen: erhebliches Stimmengewirr im Erdgeschosstrakt. Und fragt man an der Kasse und beim Aufsichtspersonal nach, ob da immer so viel Andrang wie an diesem Wochentag herrsche, dann heißt es unisono: „immer“.
Er gilt als einflussreichster lebender Künstler: Gerhard Richter
93 Jahre alt ist nun der nach wie vor als einflussreichster lebender Künstler gehandelte Richter, der zumindest im kleinen Format und auf Papier weiter arbeitet – doch aufgrund von anfallenden Organisationstätigkeiten im Kölner Atelier leider nicht wunschgemäß täglich. Doch wenigstens 81 in seinen Augen vorzeigbare Zeichnungen sind 2023 und 2024 doch zum Spätwerk hinzugekommen, nachdem er das Malen 2020 aufgegeben hatte. Richter: „Ich bin dankbar, dass ich sie [die Zeichnungen] noch machen kann, während das Malen nicht mehr geht.“
Dass die jetzige Pinakotheken-Schau der Graphischen Sammlung so viel Zuspruch einschließlich starker Handy-Fotografier-Nutzung erhält, liegt natürlich auch ein wenig daran, dass in München das Werk Richters sehr früh – und dann museal stetig – gezeigt wurde, anfangs im erstklassigen Umfeld von u. a. Beuys, Twombly, Warhol. Das war 1964, also vor gut 60 Jahren, in der Galerie von (Heiner) Friedrich & Dahlem, später abgelöst vom Galeristen Fred Jahn. Dieser kann Unglaubliches darüber berichten, zu welchen Mitteln seine Kundschaft zu greifen suchte, um eines der 110 kleinen abstrakten Bilder zu erwerben, die 1996 von Richter gemalt worden waren, um den Ankauf seines Motiv-Katalogs „Atlas“ durch das Lenbachhaus zu ermöglichen. Es gab Hauen und Stechen.

Gerhard Richter fertigt seine Werke mit Bleistift, Wasserfarbe, Kohlestaub
Nun also noch einmal – nach 2021 – Richter-Zeichnungen in der Pinakothek, zusammen mit einem Totenschädel als Editions-Ausgabe und einem frisch digital gedrucktem „Strip“-Bild. Gar zu gern wäre man Mäuschen im Richter-Atelier, wenn er die ersten Markierungen aufs Blatt setzt. Wann sind es die vielfach mit Lineal gezogenen und die weiße Fläche teilenden Geraden, an denen sich alles weitere Vorgehen entzündet, wann die mit dem Zirkel gezogenen Kreise? Wann bilden die zufälligen Flecken oder Tinten-Tönungen die Basis für das konstruktive zeichnerische Gerüst, wann sind sie hernach erst gesetzt worden? Was veranlasst den großen Experimentator, der er immer war, zu wüstem Krickelkrakel, zu ungestümen Telefon-Zeichnungen, was zu perfekt austarierten Bildaufbauten? Was bewegt ihn wann zu Bleistift, zu (dezent eingesetzter) Wasserfarbe, zu Kohlestaub, Radiergummi, Lack, zu einem Papierausriss mit der Abbildung wohl einer seiner abstrakten Malereien zu greifen? Wann ist er gewillt, in diesen neuen abstrakten Mischtechniken Vorschub zu leisten für figurative Assoziationen? Auf einem Blatt sind drei Profilgesichter zu erkennen, auf einem anderen der Kopf eines Lurches oder Molches.
Zu seinen neuen Arbeiten erklärt Richter einmal mehr, dass der Zufall, der ihm viele Jahre lang ein Helfershelfer war, im puren Zustand selten gut sei, dass er an diesem Zufall vielmehr arbeiten müsse. Und er erklärt, dass er Assoziationen zu Gegenständlichem, die sich beim Zeichnen einstellen, dann zulässt, „wenn sie nicht zu albern sind“. Jedenfalls wird auch diesmal wieder klar: Dass Richter so vielschichtig und komplex aufscheint, wie man es von einem ganz großen Künstler erwarten darf.
Info: Laufzeit bis 8. Juni. Öffnungszeiten: Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr.
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