Als andere Kultureinrichtungen geschlossen blieben, entdeckten viele Menschen sie ganz neu: „Corona hat einen wesentlichen Schub dafür ausgelöst, Friedhöfe als wertvollen Raum wahrzunehmen“, sagt Tobias Pehle vom Kuratorium Immaterielles Erbe Friedhofskultur. Ruhe, Entschleunigung und eine oft geradezu ursprünglich wirkende Natur – gerade in den immer stärker verdichteten Großstädten werden Friedhöfe zunehmend als Erholungsort genutzt, wie Pehle sagt. „Sie gehören inzwischen vermutlich zu den meistbesuchten aller unserer Kulturräume.“
Das Acker-Quellkraut galt im Ruhrgebiet als ausgestorben – gedieh aber auf dem Friedhof
Manchem Besucher mag dann auffallen, dass sich dort Tiere tummeln und Pflanzen wachsen, die anderswo in der Gegend fast nie zu sehen sind. „Friedhöfe sind Inseln der Artenvielfalt“, betont Corinne Buch von der Biologischen Station Westliches Ruhrgebiet. „Dort sind Arten erhalten geblieben, die es anderswo gar nicht mehr gibt.“ So mancher Friedhof sei eine Art ökologische Zeitkapsel: „Vor 200 Jahren gab es zum Beispiel ausgedehnte Heidelandschaften im Ruhrgebiet – auf alten Friedhöfen haben sich diese Pflanzengemeinschaften bis heute erhalten.“ Für das westliche Ruhrgebiet zeigte Buchs Erfassung auch, dass sich über die Hälfte aller in der Region vorkommenden Pflanzenarten auf den Friedhöfen finden. „Das ist eine irrsinnig hohe Zahl.“ Das Acker-Quellkraut (Montia arvensis) zum Beispiel habe zuvor als im Ruhrgebiet ausgestorben gegolten.
Ein ähnlicher Fund gelang in der Hauptstadt: Auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee – einem der größten jüdischen Friedhöfe in Europa und einem der ältesten Berlins – wurde die Laufkäferart Agonum gracilipes wiederentdeckt, die als regional verschwunden galt. Allein in einer Ecke des Domfriedhofs in Berlin-Mitte wies die Ökologin Anita Grossmann von der Technischen Universität Berlin 19 Wildbienenarten nach. Und auf den Bergmannstraße-Friedhöfen in Berlin-Kreuzberg wurden Dutzende Vogelarten erfasst, darunter Kernbeißer, Waldohreule, Sommer- und Wintergoldhähnchen.
Die Flächen summieren sich – auf fast 390 Quadratkilometer bundesweit
So klein manche Friedhöfe wirken mögen: Die Fläche summiert sich. Allein schon, weil es sehr viele gibt, mehr als 200 zum Beispiel in Berlin. Fast 390 Quadratkilometer Fläche umfassen die Friedhöfe bundesweit, wie es beim Statistischen Bundesamt heißt. Eine gar nicht mal so kleine Fläche für die Natur – zumal die Anlagen oft auch Rastplatz oder Trittstein in die Umgebung für Arten sind, wie die Biologin Angelika Nelson vom Landesbund für Vogel und Naturschutz in Bayern (LBV) sagt.
Doch warum sind gerade Friedhöfe so oft beeindruckende Naturrefugien? Ihr häufig hohes Alter gehe mit sehr altem Baumbestand aus überwiegend einheimischen Arten einher, erklärt Nelson. Er sei wertvoll unter anderem für Fledermäuse, viele Insekten wie die großen Nashornkäfer sowie Spechte und andere Höhlenbrüter. „Typischerweise gibt es auch viele Hecken, die ein ganz wichtiger Lebensraum sind.“ Insgesamt böten Friedhöfe ein Mosaik zahlreicher ganz verschiedener Biotoptypen, ergänzt Buch. Hinzu kommt, dass sich die Lichtverschmutzung in Grenzen hält, Hunde angeleint sind und Wildtiere in ihrem Tun allgemein vergleichsweise wenig gestört werden. Elementar sei zudem, dass Friedhofsverwaltungen überwiegend auf Pestizide und Dünger verzichteten, so Buch.
Ein schön bepflanztes Grab ist langfristig pflegeleichter als ein mit Stein oder Schotter versiegeltes
Generell gebe es bei vielen Betreibern das Bestreben, naturnah zu arbeiten, ist Pehle vom Kuratorium Immaterielles Erbe Friedhofskultur überzeugt. „Es ist ja auch ganz breiter gesellschaftlicher Konsens, dass Natur- und Umweltschutz zentrale Aufgaben unserer Zeit sind.“ Die Möglichkeiten sind Experten zufolge vielfältig: auf nur zweimal gemähte Blumenwiesen statt ständig gemähten Rasen setzen, Laubhaufen und Totholz-Ecken anlegen, Hecken zurückhaltend stutzen und Bewuchs auf alten Mauern und Gräbern zulassen zum Beispiel. „Super wertvoll ist es, Baumtorsos – also die Stämme zu fällender Bäume – einige Meter hoch stehenzulassen“, sagt Nelson. Auch bestimmte Verbote seien sinnvoll, ergänzt Buch. „Für versiegelte Gräber mit Schotter, Steinplatten, Glassteinen oder Kunstrasen darauf zum Beispiel.“ Von Friedhofsverwaltungen werde derlei ohnehin nicht gern gesehen, weil ein durchlässiger Boden auch für die Leichenzersetzung wichtig sei. Ein mit Stauden und Bodendeckern bepflanztes Grab sei langfristig zudem deutlich pflegeleichter.
Nicht nur gern gesehen: Manche ärgern sich über von Rehen angeknabberten Grabschmuck
Mehr Unordnung und mehr, was da kreucht und fleucht: Naturfreunden mag das Herz übergehen, wenn sie Feldhamster über den Wiener Zentralfriedhof huschen sehen, eine Waldohreule hoch über Gräbern rufen hören oder ausgerechnet auf einem Friedhof in Berlin einen Fichtenkreuzschnabel erspähen. Andere ärgern sich vielleicht über den von Rehen angeknabberten Grabschmuck und vermeintlich zu wenig gepflegte Wiesenflächen. Wie viel Natur darf es denn sein?
„Gern das Urnengrab auf der Waldlichtung, Laub sollte dort aber eher nicht liegen bleiben“, nennt Judith Könsgen ein Beispiel. Sie ist Geschäftsführerin der privatwirtschaftlich geführten Deutschen Friedhofsgesellschaft, die bundesweit 14 Friedhöfe betreibt. Ein kleines Insektenhotel sei in Ordnung – für den mehrere Meter hohen Insektenturm des Rheinhöhen-Ruhewaldes in Braubach habe man aber einen Platz am Rand gewählt. Es gebe wiederum auch Menschen, die extra regelmäßig Blumengebinde ohne Draht und Plastik mitbringen – und sich freuen, wenn Tiere damit etwas zu knabbern bekommen. „Es gibt auf alle Fälle sehr viele positive Rückmeldungen zu naturnaher Gestaltung“, lautet Könsgens Fazit. Das zeige sich etwa bei den Beiträgen in sozialen Medien zu fotografierten Tieren oder Eindrücken aus dem Blumen-garten des Friedhofs Dachsenhausen.
Wichtig sei viel Kommunikation etwa über Info-Schilder, erklärt Buch. „Man muss ganz konkret erklären, warum man da zum Beispiel eine Wiese stehen lässt, auch Exkursionen anzubieten kann sinnvoll sein.“ Vielerorts nimmt die Zahl benötigter Grabfelder ab. Lag der Anteil herkömmlicher Erdbestattungen nach Daten der Gütegemeinschaft Feuerbestattungsanlagen im Jahr 2012 noch bei 36 Prozent, waren es 2023 noch 20 Prozent, mit großen regionalen Unterschieden.
Früher waren Friedhöfe auch ein Ort der sozialen Überwachung und des Prestiges
Urnen brauchen weniger Platz als herkömmliche Gräber – und bieten viele Gestaltungsmöglichkeiten, wie Könsgen erklärt. Die Friedhofsgesellschaft zum Beispiel habe dafür in Dachsenhausen Rasenflächen ebenso im Angebot wie den Blumengarten und eine Waldlichtung. „Wichtig ist das Gefühl für die Angehörigen: Das ist hier ein Ort, an dem es dem Verstorbenen gefallen hätte.“ Der Trend zur Urne sei unter anderem eine Folge des 2004 abgeschafften gesetzlichen Sterbegeldes, erklärt Könsgen. Angehörige können oder wollen die teils mehreren Tausend Euro Kosten für eine Körperbestattung nicht stemmen und wählen vermehrt die deutlich günstigere Feuerbestattung.
Viel entscheidender ist aber wohl ein gesellschaftlicher Trend: Bis in die 1980erJahre hinein seien Friedhöfe nicht nur ein Ort der Trauer, sondern oft auch der sozialen Überwachung und des Prestiges gewesen, erklärt Könsgen. Das sei inzwischen anders – und Familien zudem oft weit verstreut, so dass sich niemand regelmäßig um ein herkömmliches Grab kümmern könne. Eine alternative Möglichkeit des Gedenkens bietet der Friedhof Dachsenhausen: Ein kleines Schloss mit den Daten des Verstorbenen hängt dort an einer bunten Gitterwand, eine identische Kopie können Trauernde bei sich tragen, zum Beispiel am Schlüsselbund.
Der Trend zur Urne bringt auch Probleme: Die Kosten bleiben, die Einnahmen sinken
Der Trend zur Urne bringt auch Probleme. Zwar nimmt im Zuge des Bevölkerungswachstums auch die Zahl der Sterbefälle zu – im Jahr 2023 starben hierzulande rund eine Million Menschen, 15 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor (rund 894.000). Doch wegen der günstigeren Urnenbestattungen sinken vielfach die Einnahmen, bei weitgehend gleichbleibenden Kosten etwa für die Friedhofsgärtner. Und es ist plötzlich vielerorts viel Platz auf Friedhöfen übrig.
So mancher Investor liebäugele damit, auf entwidmeten Grabflächen das nächste Möbelhaus entstehen zu lassen, erklärt Buch. Die Versuchung für eine Kommune mit klammer Kasse, dem nachzugeben, sei dann womöglich groß. Doch es mache in vielerlei Hinsicht Sinn, die Friedhöfe zu erhalten. „Innerstädtische Friedhöfe haben immenses Potenzial, ein wertvoller Erholungsort zu sein“, betont Könsgen. Im dörflichen Umfeld wiederum seien Friedhöfe soziale Orte, wertvolle Treffpunkte für Gespräche, ergänzt Nelson. „Gerade naturnahe Friedhöfe werden oft nicht nur als Trauerorte, sondern auch als Räume der Stille, der inneren Einkehr und Reflexion geschätzt“, meint die Sonthofener Psychologin Mareile Poettering. „Sie vermitteln das Gefühl, dass die Welt für einen Moment stillsteht, während sie draußen weiterläuft.“ Damit seien Friedhöfe wertvolle Rückzugsorte abseits des hektischen Alltags. „Eine Parkanlage ist das Beste, was man aus einem nicht mehr benötigten Friedhof machen kann“, ist Buch überzeugt. Und das bei weitem nicht nur wegen der Natur: „Es bedeutet eine Aufwertung des Umfelds, mehr Klimaresilienz, einen Ort, an dem Starkregenfluten versickern können, und es fördert die Gesundheit der Menschen.“ Oft spiele auch Denkmalschutz eine Rolle und die Orte seien kulturhistorisch sehr wertvoll.
Die Mannheimer Psychologin Susanne Spieß sieht Potenzial auch für Leseabende im Sommer, Theaterstücke und andere Veranstaltungen. „Viele Kommunen erkennen all diese Funktionen und wissen sie auch zu schätzen“, ist Pehle überzeugt. Es mag ironisch wirken, dass ausgerechnet des Menschen letzte Ruhestätte vom Aussterben bedrohten Tier- und Pflanzenarten hilft, nicht gänzlich zu verschwinden. Doch letztlich bieten sich einfach Chancen – nicht nur für die Natur, sondern auch mit Blick auf Gesundheit und urbane Klimaanpassung. (Annett Stein, dpa)
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