Sie tauchen ohne Sauerstoffflasche, bei jedem Wetter und oft bis ins hohe Alter: Die Haenyeo von der südkoreanischen Insel Jeju gelten seit Langem als außergewöhnlich. Eine neue genetische Analyse könnte nun erklären, warum sie die extremen Belastungen des Freitauchens so gut verkraften. Wie ein Forschungsteam in der Fachzeitschrift Cell Reports berichtet, fanden sich bei den Taucherinnen gleich zwei genetische Veränderungen, die ihnen Vorteile unter Wasser verschaffen könnten – etwa bei der Blutdruckregulation und im Umgang mit Kälte.
Die Tradition reicht Jahrhunderte zurück, ist jedoch rückläufig
„Es ist, als hätten sie eine Art Superkraft“, sagte Diana Aguilar-Gómez, Erstautorin der Studie von der University of California in Los Angeles. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen untersuchte sie eine Gruppe von Haenyeo – ausschließlich Frauen, die zum Teil über 80 Jahre alt sind und noch immer täglich bis zu 20 Meter tief ins Meer tauchen, um ohne Sauerstoffgerät Algen, Seeschnecken, Seeigel und andere Meeresfrüchte zu sammeln.
2016 wurden die Haenyeo – übersetzt etwa „Seefrauen“ – von der Unesco auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit gesetzt. Die Tradition reicht Jahrhunderte zurück, ist jedoch rückläufig: Heute sind viele der verbliebenen Haenyeo bereits im Rentenalter.
„Jeden Tag gehen sie ins Wasser, und dort arbeiten sie den ganzen Tag“, sagte Hauptautorin Melissa Ilardo von der University of Utah Health. „Ich habe gesehen, wie Frauen über 80 von einem Boot gesprungen sind, bevor es angehalten hatte.“
In den Genen verankert: niedriger Blutdruck, geringe Kälteempfindlichkeit
Die Forscherinnen und Forscher maßen bei 30 Taucherinnen unter anderem Blutdruck und Herzfrequenz und verglichen diese sowie genetische Daten mit denen von 30 nicht tauchenden Frauen von der Insel und von 31 Frauen vom koreanischen Festland. Das Durchschnittsalter aller Studienteilnehmerinnen lag bei 65 Jahren.
Dabei fanden sie zwei Varianten, die bei den Haenyeo deutlich häufiger vorkommen. Eine dieser genetischen Veränderungen steht im Zusammenhang mit einem niedrigeren Blutdruck beim Tauchen. Die andere betrifft offenbar die Wahrnehmung kältebedingter Schmerzen. „Die Haenyeo sind erstaunlich, und ihre unglaublichen Fähigkeiten sind in ihren Genen verankert“, fasste Genetikerin Ilardo zusammen.
Der niedrige Blutdruck könnte insbesondere während der Schwangerschaft ein evolutionärer Vorteil gewesen sein, vermuten die Forschenden. Denn Apnoetauchen – das Tauchen mit angehaltenem Atem – lässt den Blutdruck ansteigen und könnte so das Risiko für schwangerschaftsbedingte Komplikationen erhöhen. Die genetische Anpassung könnte daher sowohl den Frauen selbst als auch ihren ungeborenen Kindern zugutekommen.
Auch im Winter, wenn die Temperaturen um den Gefrierpunkt liegen, gehen die Haenyeo tauchen – oft stundenlang. Die zweite entdeckte genetische Variante betrifft ein Gen, das mit Kälteempfindlichkeit zusammenhängt. Zwar haben die Forschenden bislang nicht direkt untersucht, wie kälteunempfindlich die Taucherinnen tatsächlich sind. Doch Ilardo erinnert sich an ein Gespräch mit einer Haenyeo: „Ich habe sie einmal gefragt, ob sie aufhören würden zu tauchen, wenn es kalt genug wird. Sie sagten, solange der Windalarm nicht losgeht, gehen sie trotzdem ins Wasser.“
Die genetischen Veränderungen kommen in der gesamten Bevölkerung vor
Dass die Haenyeo besonders an ihre Umwelt angepasst sind, machten bereits frühere physiologische Studien deutlich. So wurde beobachtet, dass sich ihre Herzfrequenz beim Tauchen stärker verlangsamt als bei untrainierten Personen – ein Reflex, der dazu dient, Sauerstoff zu sparen.
Wie die Autorinnen und Autoren der aktuellen Studie beobachteten, sind die genetischen Veränderungen nicht nur bei den aktiven Taucherinnen zu finden, sondern kommen auch in der übrigen Bevölkerung von Jeju vor. „Die Tatsache, dass Frauen während ihrer Schwangerschaft tauchen, was eine wirklich schwierige Sache ist, hat tatsächlich ein ganzes Inselvolk beeinflusst“, kommentierte Ilardo.
Können die Erkenntnisse über die Insel hinaus medizinisch von Bedeutung sein?
Vieles von dem, was die Haenyeo-Frauen so besonders mache, beruhe allerdings auf lebenslangem Training. So verlangsame sich bei einer durchschnittlichen untrainierten Person von der Insel der Herzschlag im Laufe eines simulierten Tauchgangs um etwa 20 Schläge pro Minute. Bei Haenyeo mit lebenslanger Taucherfahrung, die im Alter von zehn Jahren mit dem Training beginnen, sinke die Herzfrequenz um bis zu das Doppelte.
Die Forschenden hoffen, dass die neuen Erkenntnisse langfristig über die Insel hinaus von Bedeutung sein könnten – etwa bei der Behandlung von Bluthochdruck oder der Vorbeugung von Schlaganfällen. „Wenn es etwas gibt, das das Schlaganfallrisiko senkt, dann könnten wir den Menschen überall helfen, indem wir verstehen, was diese Frauen auszeichnet“, so Ilardo. (Alice Lanzke, dpa)
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