
Knackhart, staubtrocken, dazu Rotwein: So entsteht Südtiroler Schüttelbrot

Ein Bäcker in Alta Badia weiht in die Herstellung der Spezialität ein und erklärt den Unterschied zur pücia, dem Fladenbrot der Ladiner – Crash-Sprachkurs inklusive.
Weich und geschmeidig liegen die warmen Teiglinge in der Hand. Behutsam und doch behände legt Nikolas Seppi sie auf ein langes, schmales Holzbrett, das er gleich in den Gärraum schieben wird. Hier haben die Roggen-Dinkel-Fladen 20 Minuten Zeit, um bei 38 Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit zu gären. Nikolas und seine Gäste backen heute Morgen pücia – das sind typisch ladinische Fladen – und aus demselben Teig das knackige Schüttelbrot, für das ganz Südtirol bekannt ist.
Mehl, Sauerteig, Malzmehl, Salz, Hefe, Kümmel, Fenchel, Brotklee – alle Zutaten stehen in der blitzblanken Backstube in Corvara schon bereit, in der Nikolas, sein Vater Silvano und eine Handvoll Mitarbeiter die ganze Nacht geschuftet haben. Wobei die „ganze Nacht“ keineswegs übertrieben ist. Denn: Schichtbeginn ist 22.30 Uhr, Schichtende gegen 8 Uhr in der Früh. Jetzt, Mitte September, seit 110 Tagen. Ohne Pause. Entsprechend blass, aber nicht minder freundlich nimmt Nikolas seine Besucher im „Backlabor“ in Empfang. Dass er längst im Bett liegen könnte? Geschenkt! „Ich mache das gerne“, sagt der 31-Jährige ein wenig schüchtern, aber überzeugend. Flugs sind Schürzen und Bäckerhäubchen verteilt. Dann legt der Bäcker und Konditor mit einem kurzen Theorieteil los, während der bereitgestellte Speck und Käse mit ihrem würzigen Duft die Konzentration der Bäckerpraktikanten auf die Probe stellen. Doch auch in der Ferienregion Alta Badia gilt: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

„Früher haben die Bauern im Gadertal nur zwei- oder dreimal im Jahr gebacken. Denn das Heizen der Öfen war sehr aufwendig“, erklärt Nikolas, „also brauchte man ein lange haltbares Brot.“ Sowohl die pücia-Fladen als auch das flache Schüttelbrot ließen Seppis Vorfahren auf dem Dachboden trocknen, bis ihnen jede Feuchtigkeit entzogen war. Ein halbes bis ein Jahr lang konnten die Brote auf diese Weise lagern, ohne zu schimmeln. Heute essen die Ladiner ihre pücia lieber frisch, während das Schüttelbrot nach wie vor knackhart, staubtrocken und am liebsten zu einem Glas Rotwein serviert wird. Immer noch gern verwendet wird Mehl aus Roggen, der auch in dolomitischen Höhen gut gedeiht.
1250 Gramm farina de siara, 450 Gramm farina de jandela, 10 Gramm farina de mals de orde und 40 Gramm se lässt Nikolas seine Schülerin Carolin abwiegen, die dabei die Ohren spitzt. Sind das die italienischen Begriffe für Roggen-, Dinkel-, Malzmehl und Salz? „Nein, das ist Ladinisch“, sagt Nikolas und erzählt von der Initiative „Nos Ladins“ (Wir Ladiner), die sich Alta Badia Brand für seine sechs Orte Corvara, Colfosco, La Villa, San Cassiano, Badia und La Val ausgedacht hat und an der Bäcker Seppi sowie eine Kräuterexpertin, ein Imker, ein Weber, ein Jäger aber auch Skilehrer teilnehmen. Sie lassen die Gäste an ihrem Alltag teilnehmen, lassen sie Kräuter bestimmen, Honig schleudern und schlecken, auf die Pirsch gehen oder auf Tourenski dem Sonnenaufgang entgegenkeuchen. Vor allem aber bringen die „Nos-Ladins“-Botschafter den Besuchern ein wenig Dolomitenladinisch bei, das heute etwa vier Prozent der Bevölkerung Südtirols sprechen und das neben Italienisch und Deutsch Amtssprache der norditalienischen Region ist.
Stolz und entschlossen wehrt sich die etwa 30.000 Sprecher zählende Gemeinschaft, die in Gröden, im Gadertal mit Alta Badia, im Fassatal sowie in Buchenstein und Cortina d’Ampezzo beheimatet ist, gegen ihre Auslöschung. So wird der Schulunterricht zwar auf Italienisch und Deutsch erteilt, jedoch ergänzt von zwei Schulstunden Ladinisch. Auch ein rein ladinischer Duden ist in Arbeit. „Und unsere Gäste sollen sich eben auch einen Tag lang als echte Ladiner fühlen“, sagt Nikolas Seppi, während er in seinen mit Mehlstaub bedeckten Latschen zum Wasserhahn schlappt und in 40 Grad heißem Wasser ein Stück Bierhefe auflöst. Er mag es, dass sich gerade die Jugend auf ihre (sprachlichen) Wurzeln besinnt. In seinem Falle habe vor allem die Teilnahme an „Nos Ladins“ dazu geführt, sich wieder mehr mit der aus dem Volkslatein stammenden Sprache zu identifizieren, die einst von der Donau bis zum Gardasee und vom St. Gotthardpass bis Triest in aller Munde gewesen sein soll. Auch seine römische Frau lerne eifrig die über viele Jahrhunderte konservierte Sprache.
Doch lassen wir die historische Linguistik und widmen uns wieder dem Handwerk im Backlabor, das Nikolas in dritter Generation führt. Tatsächlich knetet er heute den mit Sauerteig und Gewürzen versetzten Teig mit der Hand und nicht in der Rührmaschine – schließlich produzieren er und seine Helferlein keine Großlieferungen für die Bäckerei Seppi in Corvara, Hotels und Supermärkte. Sauerteig, weil der die Enzyme im Roggen neutralisiert und verhindert, dass sie zu viel Stärke abbauen. Kümmel, Fenchel, Brotklee oder auch senefle, ciarí und erba dal pan? Weil es ohne nicht geht.
Das Studium hat er abgebrochen, mit dem Kopf war er ohnehin in Corvara
Sein Großvater Angelo hat die Bäckerei 1960 eröffnet, heute führt sie Nikolas, das älteste von vier Kindern, in die Zukunft. Die ist allerdings sehr ungewiss. Viele Bäckereien im Tal haben in den letzten Jahren bereits aufgegeben. Die Arbeitszeiten sind alles andere als familienkompatibel, und Saisonkräfte zu finden eine große Herausforderung. Auch Nikolas hatte sich erst einen anderen Werdegang vorgestellt: Er ging zum Studieren nach München. Maschinenbau. Nach einem Semester brach der Bäckersohn ab, kehrte nach Corvara zurück. „Ich war sowieso jedes Wochenende daheim und mit dem Kopf auch unter der Woche im Backlabor. So kann man nicht studieren“, sagt der schmale Mann und reibt sich mit mehlbestäubten Fingern über die Augen. „Nos Ladins“ als Tradition, Erbe, Identität verstanden, ist wohl mehr als ein pfiffiger Marketing-Einfall.
Carolin formt mit den Händen ein Häuschen und rupft (so der Fachterminus) mit ihnen aus der fertigen Teigmasse rasch ein circa 170 Gramm schweres Stück heraus – da sind Entschlossenheit und Augenmaß gefragt. 145 Gramm beim ersten Versuch! Wer sagt’s denn? Diese Teiglinge sind es, die nach der Gärung im Steinofen mindestens 20 Minuten lang gebacken werden und gleich danach zum Anbeißen sind. Wie aber wird aus der pücia die pücia së – also der „trockene Fladen“, wie die Ladiner ihr Schüttelbrot nennen? Lässig drapiert Nikolas einen Teigling in der Mitte einer runden flachen Spanholzplatte und wirbelt diese so schnell zwischen seinen fliegenden Händen im Kreis, dass jedem Pizzabäcker schwindlig würde. Das runde Teighäufchen hüpft und hüpft und hat sich in nur wenigen Umdrehungen auf der brëia zu einem flachen großporigen Scheibchen ausgebreitet.

Die Versuche, es dem Profi möglichst elegant nachzutun, enden immerhin nicht darin, dass die Teiglinge im hohen Bogen von der Platte segeln. Die eigenen (und eigenwilligen) Kreationen sind freilich auch nach dem Backen gut von Nikolas‘ formschönen Exemplaren mit der gewünschten knusperbraunen Vertiefung in der Mitte zu unterscheiden. Nikolas‘ tröstende Worte, er habe nachts extra noch einmal das Schütteln geübt, und natürlich auch der jetzt verdiente Snack aus Speck, Käse und Schüttelbrot bestärken seine Gäste indes darin, ihre neu erworbenen Backkünste auch einmal in der heimischen ciasadafüch auszuprobieren.
Rezept: Nikolas Seppis Schüttelbrot – pücia së
Zutaten für etwa 20 Schüttelbrote:
1250 Gramm helles Roggenmehl
450 Gramm Dinkelmehl
40 Salz
15 Gramm Gerstenmalzmehl
300 Gramm Sauerteig
1300 Milligramm 40 Grad heißes Wasser
65 Gramm Bierhefe
15 Gramm Fenchel
15 Gramm Kümmel
10 Gramm Brotklee
Zubereitung:
- Erst die trockenen Zutaten miteinander in einer Rührschüssel vermischen. Danach das warme Wasser, in dem zuvor die Bierhefe aufgelöst wurde, hinzugießen sowie den Sauerteig dazugeben. Alles gut mit den Händen durchkneten, bis der Teig schön weich und fluffig ist. Die Gewürze zufügen und alles noch einmal gut durchkneten.
- Den Teig auf einer mit etwas Wasser bestrichenen Arbeitsplatte mit nassen Händen glatt streichen, dann kräftig mit Roggenmehl bestäuben (direkt unter dem Teig nicht mehlen, damit sich hier keine Mehlnester bilden). Den Teig bis zu zehn Minuten entspannen lassen, bis sich Risse im Mehl zeigen. Mit bemehlten Händen ein Dreieck bilden und etwa 170 Gramm schwere Teigstücke mit ihnen abteilen und „herausrupfen“. Den Teig rasch weiterverarbeiten, damit sich keine Haut auf ihm bildet.
- Die Teigstücke in der Mitte einer leichten runden Spanholzplatte platzieren und sie durch schnelles Drehen der Platte in kurzen, ruckartigen Bewegungen zum Hüpfen bringen. Vorsicht: Suizidgefahr der Teiglinge! Erst, wenn sie rund und nur noch zwischen fünf und zehn Millimetern flach sind, ist genug geschüttelt. Die Oberfläche sollte große Poren aufweisen. Dadurch kann das Brot später schneller trocknen.
- Die flachen Fladen nach etwa einer Stunde Gärzeit bei Raumtemperatur im vorgeheizten Ofen bei 220 Grad etwa 15 Minuten backen. Perfekt gelungen ist das Schüttelbrot, wenn es in der Mitte eine dunklere Vertiefung aufweist. Die Fladen vor dem Verzehr drei Tage trocknen lassen. Sie sollten an einem trockenen Ort aufbewahrt werden, damit sie schön kross bleiben und nicht weich werden.
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