Wer jubelnde Fußballfans sieht, denkt meist an dramatische Spielszenen, Tore und den Nervenkitzel auf dem Rasen. Doch eine neue Studie legt nahe: Der wahre emotionale Höhepunkt findet oft schon vor dem Anpfiff statt – bei gemeinsamen Fan-Ritualen.
„Wir sehen, dass das Ritual vor dem Spiel tatsächlich mehr emotionale Synchronität erzeugt als das Spiel selbst“, erklärte Dimitris Xygalatas, Anthropologe an der US-amerikanischen University of Connecticut, selbst leidenschaftlicher Fußballanhänger und schon als Jugendlicher Mitglied eines Fanclubs in Thessaloniki.
Forschende untersuchen brasilianische Fußballfans vor und während eines Finalspiels
Xygalatas bezeichnet sich als rational denkenden Wissenschaftler – und gibt doch zu, dass er beim Meistertitel seines griechischen Heimteams im Jahr 2019 in Tränen ausbrach. „Das ist nicht gerade das, was man als rationales Verhalten bezeichnen würde“, wird er scherzend in einer Mitteilung zitiert.
Doch seine emotionale Reaktion steht im Einklang mit seiner neuesten Studie, die er mit einer Forschungsgruppe aus den USA und Brasilien im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht hat. Mit seinem Team untersuchte Xygalatas die physiologischen Reaktionen von 17 brasilianischen Fußballfans während eines Finalspiels – genauer während der „Rua de Fogo“ (Straße des Feuers), einem leidenschaftlichen Ritual vor dem Stadion. Dabei begleiten Fans die Ankunft des Mannschaftsbusses mit Leuchtfackeln, Rauchbomben und Feuerwerkskörper, Gesängen und Fahnen.
Mithilfe tragbarer EKG-Sensoren maß die Forschungsgruppe die Herzfrequenzschwankungen der Fußballanhänger – ein Indikator für emotionale Erregung – während des Rituals, beim Einlass ins Stadion und während des Spiels selbst.
Das Ergebnis: Die Begeisterung oder kollektive Erregung, von den Forschenden als „kollektive Ekstase“ bezeichnet, erreichte während des Rituals vor dem Spiel ihren Höhepunkt – und wurde nur in dem Moment übertroffen, als die Heimmannschaft ein Tor erzielte. „Es gibt einen einzigen Moment im gesamten Spiel, in dem die kollektive emotionale Synchronität größer ist als beim Ritual vor dem Spiel, und das ist, wenn ein Tor fällt“, sagte Xygalatas.
Auch nicht beteiligten Menschen lassen sich von der kollektiven Emotion anstecken
Die Ekstase während des Rituals vor dem Stadion sei vermutlich nicht nur auf die visuellen Reize der Pyrotechnik, laute Geräusche und wiederholte Bewegungen zurückzuführen: „Vielmehr kann sie organisch entstehen, wenn Gruppen von gleichgesinnten, sozial verbundenen Individuen zusammenkommen, um an sozial bedeutsamen Interaktionen teilzunehmen“, heißt es in der Studie.
Besonders bemerkenswert: Die emotionale Synchronität war nicht nur bei den aktiv beteiligten Fans zu beobachten, sondern auch beim Fahrer des Mannschaftsbusses, der ebenfalls mit einem Herzsensor ausgestattet worden war. Das weist dem Forschungsteam zufolge darauf hin, dass die soziale Dynamik solcher kollektiven Zusammenkünfte auch Menschen erfasst, die eher am Rand stehen oder eine unterstützende Rolle einnehmen.
Dimitris Xygalatas beschäftigt sich seit Jahren mit der Bedeutung von Ritualen für das menschliche Verhalten. Ob religiöse Feste oder das barfuß über glühende Kohlen gehen – Rituale erscheinen oft irrational, stiften aber tiefgreifenden Sinn.
Auch Fußball stelle einen solchen Raum dar, meint der Forscher: eine globale Obsession voller Rituale und Pomp, aber weitgehend frei von religiöser oder politischer Ideologie. „Die Menschen messen dem Sport eine große Bedeutung bei“, so der Wissenschaftler. „Und der Grund dafür ist nicht nur das, was auf dem Spielfeld passiert. Es sind diese ritualisierten Interaktionen, die zwischen den Fans stattfinden.“
Gemeinsame Rituale beeinflussen unsere Gefühle und Überzeugungen
Fußball könne Menschen allerdings auch spalten, so Xygalatas, der als Jugendlicher brutal zusammengeschlagen wurde, als er mit dem falschen Fanschal im falschen Viertel in Thessaloniki unterwegs war. Nur das zufällige Auftauchen anderer Fans seiner Mannschaft habe ihn damals gerettet. Solche Erfahrungen zeigen für ihn die Schattenseite der emotionalen Bindung an den Sport: „Fußball ist die einzige Sportart, die regelmäßig zu tödlicher Gewalt führt“, sagte er. Ligen und Organisationen wie die FIFA müssten das ernst nehmen.

Xygalatas betont, dass er dennoch nicht für weniger Fußball-Leidenschaft plädiere – im Gegenteil: Er will zeigen, wie stark Rituale unser Denken und Fühlen prägen und das weit über den Sport hinaus. Ob Konzert, politische Kundgebung oder Gottesdienst – überall, wo Menschen gemeinsam Rituale erleben, könne das ihre Emotionen und sogar ihre Überzeugungen stark beeinflussen.
Emotionale Synchronität in diesen Umgebungen könne das intrinsische menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit befriedigen und dazu beitragen, gemeinsame Identitäten zu bilden und zu stärken, heißt es in der Studie. Anthropologe Xygalatas erläuterte auch: „Wenn wir diese Veranstaltungen besuchen, formen wir tatsächlich unsere Überzeugungen. Sport ist also nicht nur ein Vorwand, um zusammenzukommen. Er ist ein Motor für Identität.“ (Alice Lanzke, dpa)
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