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Bestsellerautorin Yael Adler: „Ernährung soll kein Straflager sein.“

Interview

Yael Adler: „Verbote beim Essen machen eher Gelüste“

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    Kluger Genuss statt ständiger Verzicht: Dafür plädiert Ernährungsmedizinerin Yael Adler.
    Kluger Genuss statt ständiger Verzicht: Dafür plädiert Ernährungsmedizinerin Yael Adler. Foto: Jenny Sieboldt/Dr. Yael Adler/dpa

    Die Deutschen essen drei bis vier Mal am Tag. 72 Prozent aber sind laut einer Studie nicht zufrieden mit dem, was sie essen, sondern denken, sie müssten sich gesünder ernähren. Machen wir beim Essen so viel falsch?
    YAEL ADLER: Wir machen nicht unbedingt alles falsch. Aber viele Menschen haben den Bezug zum Essen verloren und fühlen sich verunsichert. Die Informationsflut, die Widersprüche, die Ideologien rund ums Essen verunsichern. Ernährung ist moralisch aufgeladen – „isst du vegan oder paleo, besser lowcarb oder high protein?“ – und wird in einer Heftigkeit diskutiert, wie sonst nur Politik oder Religion. Jeder ist Experte. Doch nicht jeder hat genug Gesundheitskompetenz, es fehlt an Wissen, das unser oft mittlerweile gestörtes Bauchgefühl ergänzt. Es regieren Marketing, Verkaufsstrategien, Trends und Halbwissen aus dem Internet. So entsteht Frust und Unsicherheit. Hochverarbeitete Lebensmittel ruinieren unser Appetitzentrum, viele bereiten ihr Essen nicht mehr selber zu, nutzen zu viel Zucker, Salz, Süßstoffe und essen ohne längere Essenspausen, nehmen zu wenig Ballaststoffe und Pflanzenkost zu sich und bewegen sich zudem zu wenig. Sie fühlen einen Mangel an Energie, nehmen zu, schlafen schlecht, das Gemüt und das Immunsystem leidet. Zum Glück ist es jederzeit möglich, ungesunde Gewohnheiten wieder loszuwerden.

    Wenn man sich ein wenig mit Ernährung auskennt … In Ihrem Buch „Genial ernährt“ beschreiben Sie das Gespräch zwischen Ihnen und einer Patientin. Die erklärt Ihnen: „Ich esse NIE Fleisch.“ Sie erwidern: „Die Arachidonsäure in ihrem Blut ist aber sehr hoch. Die kommt vom Fleisch.“ Patientin: „Nein! Kann nicht sein! Ich esse NIE Fleisch! Ich esse nur Bockwurst. Und Salami. Ich liebe Salami! Und wenn mein Freund kommt, mache ich uns Hack mit Zwiebeln fürs Brötchen.“ Das klingt nach einem Sketch in einer Comedy-Show. Steht es so schlimm ums Ernährungswissen?
    ADLER: Leider ja. Viele Menschen wissen nicht, wie ihr Körper mit Nahrung umgeht, wie er verdaut und was wirklich in Lebensmitteln steckt, dass unser Biorhythmus, die Darmflora und die Qualität der Nahrung wichtig sind. Sie denken, Wurst sei kein Fleisch, weil es nicht nach Steak aussieht. Oder sie glauben, „vegan“ sei automatisch gesund – selbst wenn es sich um Zuckerbomben handelt. Sie glauben Kaffee sei schädlich, das Gegenteil ist der Fall und glauben, wenn sie Erdbeerquark kaufen, sei der doch gesund, dabei sind keine bis kaum Erdbeeren drin und dafür ganz viel Zucker. Es fehlt an Grundlagenwissen, weil in den Familien weniger zusammen gekocht und gegessen wird und Ernährung kaum im Schulunterricht vorkommt. 

    Fett ist besser als sein Ruf, schreiben Sie, und: Keine Angst vor Kohlehydraten. Um welches Nahrungsmittel gibt es denn Ihrer Erfahrung nach die meisten Missverständnisse.
    ADLER: Definitiv Fett. Jahrzehntelang galt es als Dickmacher und Herztod auf dem Teller. Heute wissen wir: Hochwertige Fette – etwa aus Nüssen, Avocados, kalt gepresstem nativen Olivenöl extra– sind lebenswichtig. Sie machen länger satt, geben dem Essen Aroma, helfen bei der Aufnahme von fettlöslichen Vitaminen und liefern wichtige ungesättigte Fettsäuren, die das Herzkreislaufsystem und vor Entzündungen schützen. Man sagt, dass 35 % der Kalorienzufuhr sehr gerne aus gesunden Fetten bestehen dürfen. Gerade die Omega-3-Fettsäuren helfen beim Abnehmen und Demenz vorzubeugen sowie wiederum für gute Gefäßgesundheit. Auch Eier wurden zu Unrecht verteufelt. Nicht sie erhöhen unser Cholesterin nennenswert, sondern der Zusatz von Fruchtzucker als billiges Süßungsmittel und Haushaltszucker. Außerdem sind künstliche Süßstoffe nicht mehr die harmlose Alternative, für die man sie lange Zeit hielt. Die Forschung zeigt negative Einflüsse auf die Darmflora, mit Risiko für Diabetes, das gefoppte Empfinden im Gehirn oder Blutplättchen, die verkleben. Und bei Kohlenhydraten kommt es auf die Qualität an: Vollkorn und Kleie gern, Weißmehl eher wenig.

    Wie sind die entstanden?
    ADLER: Diese Missverständnisse haben mehrere Ursachen, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben. Zum einen wurden viele Ernährungsempfehlungen in den 1970er- und 80er-Jahren auf Basis von damals verfügbaren Studien getroffen – etwa die Empfehlung, Fett stark zu reduzieren. Damals glaubte man, Fett sei Hauptverursacher für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zucker wurde verharmlost oder gar nicht betrachtet. Heute wissen wir durch neue, bessere Studien, dass ungesunde Fette und zu viel Zucker und Weißmehl problematisch sind – aber diese Erkenntnisse dringen nur langsam ins kollektive Bewusstsein. Zweitens spielt die Lebensmittelindustrie eine große Rolle. Sie hat lange gezielt mit gesund klingenden Werbebotschaften gearbeitet – etwa mit Begriffen wie „light“, „fettfrei“ oder „cholesterinfrei“, die viele Menschen zu vermeintlich gesunden, aber tatsächlich stark verarbeiteten Produkten greifen ließen. Drittens fehlt es an guter Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Studien sind oft kompliziert, ihre Ergebnisse werden in den Medien zugespitzt oder falsch dargestellt. Eine differenzierte Botschaft wie „nicht jede Kalorie ist gleich“ verliert gegen eingängige Slogans wie „Fett macht fett“. Und zuletzt gibt es eine starke emotionale Komponente: Essen ist persönlich, kulturell, oft mit Kindheitserinnerungen und Gewohnheiten verknüpft. Wenn neue Erkenntnisse alten Gewohnheiten widersprechen, reagieren viele mit Ablehnung. Es ist schwer, liebgewonnene Überzeugungen loszulassen – selbst wenn die Wissenschaft längst weiter ist.

    Ihr Dreischritt lautet: Lassen sie uns klüger essen, damit wir entspannter genießen und besser leben können. Was verstehen sie unter klüger essen? 
    ADLER: Wer Wissen hat, kann besser auf sich achten und ist unabhängig von Arzt und Apotheker und Influencern sowie Werbe-Versprechen. Wer seinen Körper und den Wert von Lebensmitteln kennt, bleibt länger jung, gesund und fit. Klüger essen heißt, das ,Warum‘ hinter dem ,Was‘ zu verstehen. Es bedeutet, den eigenen Körper zu respektieren, ihm das zu geben, was er braucht – nicht aus Angst, sondern aus Achtsamkeit, Respekt und Fürsorge. Es heißt, sich Wissen anzueignen, neugierig und gern auch experimentierfreudig zu bleiben. Wer klüger isst, erkennt Zusammenhänge: zwischen Nahrung und Entzündung, zwischen Darmflora und Stimmung, zwischen Essen und Schlafqualität. Außerdem zeige ich, dass es bei der Ernährung nicht um Perfektion geht, sondern um Balance. Und es gibt nicht nur ein Richtig, sondern viele Richtige. So entsteht ein entspannter Umgang mit Ernährung, Essen ist sinnlich, man darf es genießen und hat somit mehr Lebensqualität.

    Sie sind bei der Ernährung gegen Verbote oder Askese. Also auch mal Chips, wenn es einen danach gelüstet?
    ADLER: Ja! Ernährung soll kein Straflager sein. Wer sich zu streng einschränkt, verliert oft den Genuss – und das macht auf Dauer unglücklich. Verbote machen eher Gelüste. Ich plädiere für Balance: Wenn ich mich zu 80 oder 90 Prozent bewusst und gesund ernähre, darf ich mir die Chips oder das Eis gönnen – ohne schlechtes Gewissen, denn dann kann mein Körper diesen Belastungen auch strotzen. Und noch einmal: gesunde Ernährung führt zu einem raschen körperlichen Wohlbefinden, sie macht Spaß und stark. Unser Körper verkraftet Ausnahmen gut, aber er leidet unter schlechter Dauerernährung.

    Wovon sie sie bei der Recherche zum Buch selbst überrascht worden?
    ADLER: Mich haben vor allem die Zahlen erschüttert. Etwa 74 Prozent der Todesfälle weltweit gehen auf Zivilisationserkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes oder Krebs zurück – Krankheiten, die ganz wesentlich durch unseren Lebensstil und die Ernährung beeinflusst werden. Gleichzeitig sind rund 42 Prozent der Erwachsenen weltweit übergewichtig, und viele Menschen befinden sich in einem frühen Stadium metabolischer Entgleisung, etwa durch eine unerkannte Fettleber oder eine beginnende Insulinresistenz – oft lange, bevor sich klinische Symptome zeigen, schon viele Kinder haben eine Leberverfettung. Besonders eindrücklich war für mich die Erkenntnis, dass 30 bis 40 Prozent aller Krebserkrankungen durch einen gesünderen Lebensstil – mit der Ernährung als zentralem Hebel – vermeidbar wären. Und selbst kleine Veränderungen machen einen spürbaren Unterschied: Schon fünf Prozent mehr Ballaststoffe in der täglichen Ernährung können die Gesamtsterblichkeit um 14 Prozent senken. Das ist nicht nur medizinisch relevant, sondern auch zutiefst motivierend, weil es zeigt, wie viel wir selbst in der Hand haben.

    Sie schreiben: Der Herzinfarkt mit fünfzig begann im Alter von zwanzig Jahren, die Alzheimererkrankung einer Siebzigjährigen mit vierzig und auch die eingeschränkte Beweglichkeit mit achtzig schon fünfzig Jahre vorher. Gibt es eine Umkehr? 
    ADLER: Ja, absolut – der Körper ist plastisch, lernfähig, regenerierbar. Es ist nie zu spät, etwas zu verändern. Natürlich kann man nicht jede Erkrankung vollständig verhindern oder rückgängig machen, aber man kann Prozesse messbar verlangsamen, Symptome lindern und die Lebensqualität erheblich verbessern. Wir wissen heute, dass sich Blutgefäße wieder erholen können, dass sich stille Entzündungen im Körper zurückbilden lassen und dass auch das Darmmikrobiom – unser inneres Ökosystem – wieder ins Gleichgewicht kommen kann, wenn wir unserem Körper die richtigen Bedingungen bieten. Gute Ernährung ist dabei ein zentrales Werkzeug, weil sie nicht nur präventiv schützt, sondern auch aktiv eingreift: Sie beeinflusst die Zellalterung, den Stoffwechsel, die Hormonregulation, das Immunsystem und den Reparaturmechanismus von Geweben. Prävention beginnt heute – wirkt aber oft Jahrzehnte später. Und der Effekt ist real, nachweisbar und statistisch greifbar: Studien zeigen, dass man durch einen gesunden Lebensstil – also ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung, ausreichend Schlaf, wenig Stress, Nichtrauchen – im Schnitt bis zu 22 Lebensjahre gewinnen kann. Beeindruckend ist auch, wie trainierbar selbst ein hochbetagter Körper noch ist: Es gibt Studien mit Menschen zwischen 86 und 96 Jahren, die nie zuvor Sport getrieben haben – und bei denen sich der Muskelzuwachs nach gezieltem Krafttraining um bis zu 170 Prozent gesteigert hat. Das zeigt eindrücklich: Der Körper reagiert auf das, was wir ihm anbieten – und zwar in jedem Alter. Es ist nie zu spät, etwas Gutes für sich zu tun.

    Als neue Faustformel gilt: Für eine gesunde Darmflora soll man etwa 30 unterschiedliche pflanzenbasierte Lebensmittel pro Woche zu sich zu nehmen. Klingt auch nicht unkompliziert. 
    ADLER: Auf den ersten Blick klingt das tatsächlich nach viel – 30 verschiedene pflanzenbasierte Lebensmittel pro Woche! Aber wenn man versteht, was alles mitzählt, wird schnell klar: Es ist nicht nur machbar, sondern sogar richtig leicht – und macht Spaß. Diese Empfehlung stammt aus der Mikrobiomforschung, unter anderem vom großen American Gut Project, einer der weltweit größten Studien zur menschlichen Darmflora. Dort zeigte sich, dass Menschen, die pro Woche mindestens 30 verschiedene pflanzliche Lebensmittel zu sich nahmen, eine deutlich vielfältigere und gesündere Darmflora hatten – mit mehr Schutzfaktoren gegen Entzündungen, Allergien, Übergewicht und chronische Erkrankungen.

    Und was zählt nun alles dazu?
    ADLER: Viel mehr, als man denkt: Nicht nur jedes einzelne Gemüse und Obst, sondern auch Hülsenfrüchte, Nüsse, Samen, Vollkorngetreide, Kräuter, Gewürze und sogar fermentierte Lebensmittel wie das oben erwähnte Sauerkraut oder Kimchi. Jede Sorte zählt einzeln – also Brokkoli, Blumenkohl und Grünkohl sind drei Punkte. Auch Kräuter wie Petersilie, Dill oder Basilikum zählen jeweils als eigene Pflanzen. Wer mit abwechslungsreichen Zutaten kocht, kommt ganz schnell auf 30 – und weit darüber hinaus.

    Sie zählen mit?
    ADLER: Ich mache das im Alltag ganz pragmatisch: Schon beim Frühstück kann ich locker neun Pflanzen „sammeln“. Zum Beispiel durch ein Müsli aus Haferkleie und Hirse, Leinsamen, Chiasamen, Hanfsamen, Weizenkeimen, Walnüssen, Mandeln, Apfel, Himbeeren, Heidelbeeren, Zimt und einem Klecks Quark mit einem Teelöffel Yacon-Wurzelpulver – das sind 13 pflanzliche Komponenten, noch vor dem ersten Kaffee. Mittags ein bunter Salat mit Linsen, Oliven, Kräutern, Rucola, Paprika und Tomate – schon sind wir bei 19. Und wer dann noch mit Tofu, Pilzen, Kartoffeln und andern verschiedenen Gemüsesorten, Hülsenfrüchten, frischen Kräutern und Gewürzen kocht, kommt spielend leicht auf die 30. Man kann das Ganze auch als Challenge sehen – und tatsächlich machen solche „30-a-week“-Challenges inzwischen weltweit die Runde. Viele Menschen erleben dadurch nicht nur eine bessere Verdauung, sondern auch mehr Energie, weniger Heißhunger, klarere Haut und ein stärkeres Immunsystem. Denn unsere Darmbakterien lieben Vielfalt – sie leben buchstäblich davon. Je bunter unser Teller, desto stabiler unsere Gesundheit.

    Zur Person Yael Adler, 51, ist Ärztin für Haut- und Ernährungsmedizin mit Praxis in Berlin, gefragte TV-Gesundheitsexpertin, Podcast-Moderatorin und Bestsellerautorin. Bekannt wurde sie mit dem Buch „Haut nah: Alles über unser größtes Organ“, mit dem sie Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste erreichte. Vor kurzem ist ihr fünftes Buch erschienen: „Genial ernährt! Klüger essen, entspannter genießen, besser leben.“ (Droemer, 416 Seiten, 22 Euro). Yael Adler ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

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    Foto: Droemer Knaur
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