Herr Ullrich, Sie hatten Anfang Mai einen schweren Radunfall, haben sich das Schlüsselbein und mehrere Rippen gebrochen. Sogar die Lunge war eingedrückt. Wie geht es Ihnen?
JAN ULLRICH: Ich hatte zwei Wochen mit extremen Schmerzen zu kämpfen, aber mir geht es schon viel besser. So ein menschlicher Körper kann sich sehr gut regenerieren. Ich habe zwar vier Wochen an Training verloren, aber das lässt sich leicht wieder aufholen – ich muss ja nicht zur Tour de France.
Herr Zabel, im gemeinsamen Podcast „Ulle & Rick“ haben Sie nach dem Unfall gescherzt, dass Jan nun endlich ein echter Radrennfahrer sei, nachdem er sich das Schlüsselbein gebrochen hat. Sind Sie als ehemalige Rad-Profis leidensfähiger als andere Menschen?
RICK ZABEL: Ja. Sportlerinnen und Sportler im Allgemeinen. Sie haben ein anderes Level an Schmerzverträglichkeit, zusammen mit Disziplin und Zielstrebigkeit.
ULLRICH: Man lernt, mit dem Schmerz zu leben. Das tägliche intensive Training, die Wettkämpfe, die vielen Stürze – da heißt es: aufstehen, weitermachen, so schnell wie möglich in die Reha oder zurück aufs Rad.
Leidensfähig mussten Sie beide auch in Bezug auf Ihre Väter sein, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Herr Ullrich, Sie sind größtenteils ohne Vater aufgewachsen …
ULLRICH: Ich dachte immer, ich hätte eine gute Kindheit gehabt. Das war rückblickend natürlich ganz anders. Mein Vater hat mich fast gar nicht akzeptiert. Ich kann mich an vier, fünf Situationen mit meinem Vater erinnern, dann hat er uns verlassen und ich habe ihn nie wieder gesehen. Man sucht sich als Kind dann andere Personen, die den Job des Vaters machen können. Mir hat mein Vater gefehlt – und das ist ganz entscheidend fürs Leben.
Sie haben selbst vier Kinder. Welche Lehren haben Sie aus Ihrer Kindheit für die eigene Vaterrolle gezogen?
ULLRICH: Ich habe viele Fehler gemacht und dadurch viele Jahre verloren, die ich als Papa hätte besser machen können. Aber ich bin ja noch da, voller Energie, und versuche, jetzt vieles richtigzumachen. Es ist wichtig, dass sich die Kinder entwickeln können, deshalb will ich sportlich gar keinen großen Einfluss nehmen. Aber wenn ein Kind Spaß hat an irgendwas und vielleicht sogar Erfolg, sollte man das mit allem, was man hat, unterstützen.
Herr Zabel, bei Ihnen war Vater Erik, selbst erfolgreicher Rad-Profi, hingegen sehr präsent …
ZABEL: Vieles davon ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden. Mit meinem Papa hatte ich immer den größten Supporter, aber auch den härtesten Kritiker zu Hause. Ich musste älter werden, um zu verstehen, dass das seine Art von Liebe ist und er das nicht böse meinte. Er hat immer mehr in mir gesehen als ich das selbst getan habe. Mir wurde erst später bewusst, dass ich als Mensch auch etwas wert bin, wenn ich die Tour de France nicht fahre oder nicht nominiert werde; dass meine Eltern trotzdem stolz auf mich sind, wenn ich nicht der Beste bin. Durch meinen Papa bin ich mit Leistungssport groß geworden, aber am Ende meiner Karriere ist es ins Gegenteil gekippt: Ich hatte die Schnauze voll von dem ganzen Druck.

In Ihrem Buch, das am 3. Juli erscheint, schreiben Sie: „Mein Vater war Fluch und Segen zugleich für meine Karriere.“ Überwiegt aus heutiger Sicht der Fluch oder der Segen?
ZABEL: Schon der Segen. Mein Papa hat mir so viel beigebracht, was ich woanders gar nicht hätte lernen können. Gleichzeitig ging mit dem Namen eine Erwartung einher. Ich musste für mich herausfinden, dass ich mich nicht an seinen Erfolgen messen lassen sollte, weil das einfach nicht gesund ist, sich damit zu vergleichen.
Sie haben beide Ihre aktive Karriere beendet – der eine aus freien Stücken, der andere wegen Doping-Vorwürfen. Wie macht man mit etwas Schluss, das davor das ganze Leben war?
ZABEL: Ich habe mich frei gefühlt. Das war wie bei einer Ex-Freundin, von der man Abstand braucht. Ich habe mir keine Rennen mehr angeschaut und dachte mir: „Lass mich mit Radsport in Ruhe!“ Ich fand es toll, keinen Ernährungsplan mehr zu haben. Ernährung war ohnehin mein Laster: Nach einer harten Trainingswoche brauchte ich auch mal was von McDonald's auf dem Rückweg oder einen Döner. Da habe ich mir gedacht: „Ey, ich hab‘ 6000 Kalorien verbrannt, da kann der Ernährungsberater jetzt reinschreiben, was er will.“ Man konnte plötzlich auch mal bis 1 Uhr im Biergarten sitzen und mit Kumpels quatschen. Manchmal vermisse ich die Strukturen und versuche, wieder ein paar Routinen einzuführen. Die tun auch dem neuen Leben gut.
ULLRICH: Bei mir war es ganz anders: Es war eine Schocksituation, mit der ich umgehen musste – und die ganze Welt hat zugeschaut und mich beschossen. Da musste ich erst mal den Kopf einziehen. Der Sport hat mich geschützt. Ich war ein extremer Mensch. Wenn ich nach der Saison im Urlaub war, habe ich nicht nur ein Glas Wein getrunken, sondern immer ein wenig mehr, mehr. Ich wusste aber: Wenn der Urlaub vorbei ist, trinke ich mehrere Monate gar keinen Alkohol. Als das wegfiel, gab es keine Kontrolle mehr und ich bin in diese Alkoholgeschichte hineingeschlittert. Es war nicht leicht, als Jan Ullrich mit dieser Lebenskrise aus dem aktiven Radsport herauszukommen. Das greift natürlich auch ins Privatleben ein. Ich glaube, dass die ganze Situation meine Ehe gekostet hat. Es war sehr schwer für mich. Aber irgendwann besinnt man sich: Was kann ich? Was will ich vom Leben? Jetzt mache ich wieder was, mit dem ich mich wohlfühle. Boris Becker macht zum Beispiel auch noch viel im Tennis, den kann man sich nicht auf der Baustelle vorstellen – und Jan Ullrich genauso wenig.
ZABEL: Jan war in Höchstform, wollte angreifen und dann wird einem das genommen, was man am allermeisten liebt. Hinzukommt: Das war 2006. Ich merke bei meinen Eltern, dass das Thema mentale Gesundheit und Dinge in einer Therapie aufzuarbeiten in deren Generation noch viel verpönter ist. Dann erlebt man ein Trauma wie Jan und niemand sagt: „Arbeite das mal auf.“ Das ist alles erst Jahre später passiert.
Sie haben das Trauma angesprochen: Herr Ullrich, Sie waren nach dem Tour-Sieg 1997 ganz oben, zehn Jahre später nach Doping und Alkoholexzessen ganz unten, sind laut eigener Aussagen mehrfach knapp dem Tod entkommen. Wie steht man da wieder auf?
ULLRICH: Ich bin Vater von vier Kindern, das war der entscheidende Punkt. Ich konnte mich nicht einfach so verabschieden. Dieser Lebensstil hat mir die Grenzen nach unten gezeigt und die waren auf Anschlag. Mehr ging nicht. Was mich behindert hat, war, wie Rick schon sagte: Es gab keine psychologische Hilfe. Man musste stark sein und selbst klarkommen.
Hilfe bekamen Sie von Ihrem damaligen Rivalen und Freund, Lance Armstrong. Wie erklären Sie sich, dass sein Image noch immer beschädigt ist, obwohl er auch ausgepackt hat?
ULLRICH: Das stimmt so nicht ganz. Zunächst muss ich sagen: Ich hatte in meinem Leben sehr viele Freunde, aber nur wenige richtige. Lance gab mir immer das Gefühl, mich zu verstehen und den Menschen hinter dem Namen zu sehen. Letztes Jahr habe ich ihn in den USA besucht und da sagte er mir: Auf die Doku über ihn, die vor fünf Jahren schon einmal im Fernsehen lief, gab es jetzt viel positiveres Feedback. Für das Verständnis in der Gesellschaft, in welcher Situation wir damals waren, brauchte es einfach Zeit. In Deutschland ist die Sichtweise zu Lance ein wenig stehen geblieben, aber in den USA hat er wieder einen ganz anderen Stellenwert.

Einen großen Stellenwert genießt auch der Radsport wieder im Leben von Ihnen beiden. Herr Zabel, Sie testen für ein Youtube-Format ein Jahr lang verschiedene Berufe. Sie waren etwa bei der Müllabfuhr und im Ordnungsamt. Hat Sie schon ein Beruf überzeugt?
ZABEL: Ich respektiere jeden Beruf und das Format hat mich Demut gelehrt. Mir ist schnell klar geworden: Ich bin privilegiert aufgewachsen. Ich hatte das Glück, mein Hobby zum Beruf zu machen. Jetzt habe ich als Content Creator direkt das nächste Glück gefunden. Aber sag niemals nie: Vielleicht reißt Job 42, Förster, das Ruder noch mal herum.
Herr Ullrich, Sie begleiten Ihre Kinder zu Radrennen, sind als Experte im TV zu sehen und haben kürzlich ein Radsport-Festival ausgerichtet. Haben auch Sie Frieden mit dem Sport und Ihrem Leben geschlossen?
ULLRICH: Nach meiner Karriere war das eine Hassliebe zum Sport. Ich konnte Rennen eine gewisse Zeit nur noch ohne Ton verfolgen, konnte mein Rad zwei, drei Jahre gar nicht mehr anschauen. Ich habe mich selbst bemitleidet. Jetzt, auch nachdem ich in der Amazon-Doku noch einmal die Hosen heruntergelassen hatte, bekam ich eine neue Chance. Der Radsport ist wieder zu einer großen Liebe geworden.
Welche Erkenntnis hätten Sie beide gerne früher gehabt?
ZABEL: Aufs eigene Gefühl hören. Mein Karriereende war lange ein Thema, bei dem ich mir dachte: „Mach’ ich es, mach’ ich es nicht?“ – immer verbunden mit der Angst, ob ich vielleicht nur interessant bin, solange ich Radprofi bin. Aber im Endeffekt trägt man für sich selbst Verantwortung.
ULLRICH: Ich habe viele Jahre meines schönen Lebens verloren, weil ich keine Hilfe annehmen konnte. Das war ein falscher Ehrgeiz. Ich dachte immer, Hilfe anzunehmen ist ein Zeichen von Schwäche – bis ich dann selbst ganz schwach war. Dann musste ich Hilfe annehmen und dann tat es auch gut.
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