Herr Nida-Rümelin, noch nie zuvor ist ein Kanzler im ersten Wahlgang gescheitert. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie das gehört haben?
NIDA-RÜMELIN: Es war ungewöhnlich, ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik, aber auch keine Katastrophe. Der zweite Wahlgang ist klar ausgefallen. Wäre Friedrich Merz erst beim dritten Anlauf mit relativer Mehrheit gewählt worden, wäre das ein riskantes Spiel gewesen, denn dann hätte er als Bundeskanzler nicht das Vertrauen der beiden Koalitionsfraktionen gehabt. Wir brauchen eine starke, geeinte Regierung, insofern war das ein ungünstiger Start.
Hatten Sie das kommen sehen?
NIDA-RÜMELIN: Nein, aber es fiel auch nicht aus heiterem Himmel. Merz hat in den letzten Monaten äußerst ungeschickt agiert. Neben einigen Äußerungen war sein Versuch, mit der AfD eine neue Migrationspolitik im Bundestag durchzusetzen, ein Paukenschlag, der hochgefährlich war und die falschen Signale gab. Auch die SPD hat einen Wahlkampf gegen Merz geführt, der der Sachlage nicht gerecht wurde, da auch während des Wahlkampfs absehbar war, dass die SPD mit der Union koalieren wird.
Würden Sie die Abstimmung aus philosophischer Sicht als Verrat bezeichnen?
NIDA-RÜMELIN: Nein, hinter Verrat stecken boshafte Absichten. Wenn mit dem Ergebnis festgestanden hätte, dass es nicht zu einer Regierungsbildung kommt und dies allen Fraktionsmitgliedern bewusst gewesen wäre, die gegen Merz gestimmt haben, und sie damit eine Staatskrise auslösen wollten, hätte man von Verrat sprechen können. Aber ich gehe davon aus, dass niemand solche Absichten verfolgt hat.
Was waren dann die Absichten?
NIDA-RÜMELIN: Die Abgeordneten wollten vermutlich ein Warnsignal setzen und sind davon ausgegangen, dass fast alle anderen schon zustimmen werden. Inhaltliche Differenzen oder die Tändelei mit der AfD vor den Koalitionsverhandlungen mögen eine Rolle gespielt haben. Einige Unionsmitglieder mögen persönliche Motive gehabt haben, weil sie gern einen anderen Kandidaten an der Spitze gehabt hätten. Aber er führte den Wahlkampf und wurde zum Parteivorsitzenden gewählt.
Hatten die Fraktionsmitglieder nicht auch eine moralische Verantwortung, direkt für Merz zu stimmen?
NIDA-RÜMELIN: Die Wahl ist rechtlich regelkonform verlaufen, politikethisch nicht. Denn die Fraktionsmitglieder hatten sich auf Merz festgelegt, niemand hatte in den Sitzungen vorher seine Stimme gegen ihn erhoben. Insofern haben Mitglieder der Koalition nicht wahrhaftig agiert. Nach der Verfassung sind die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet, aber die Handlungsfähigkeit der Fraktionen hängt von ihrer Geschlossenheit ab.
Aber eine Wahl ist immer auch ein Wagnis?
NIDA-RÜMELIN: Eine politische Entscheidung wird nicht dadurch legitimiert, dass sie auf inhaltlichem Konsens beruht, sondern dass sie aufgrund bestimmter Regeln der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zustande gekommen ist. In diesem Spannungsverhältnis bewegen sich Politikerinnen und Politiker immer. Einerseits sind sie den Regeln verpflichtet, andererseits möchten sie aus inhaltlichen Gründen diesen im Einzelfall nicht immer folgen. Das haben wir jetzt gesehen.

Sollte man ihnen verzeihen?
NIDA-RÜMELIN: Man wird wohl nie erfahren, wer die Abweichler waren. Die Fraktionen sind gut beraten, jetzt nicht auf die Suche nach den Missetätern zu gehen oder sie zu diskreditieren. Das sind gefährliche Spielchen, die den demokratischen Prozess nur weiter destabilisieren.
Für Merz war die Abstimmung eine Demütigung. Wird er sich davon erholen?
NIDA-RÜMELIN: Warten wir mal, was daraus erwächst. Es gibt manchmal paradoxe Entwicklungen in der Politik beispielsweise das Phänomen, dass Regierungskoalitionen mit knapper Mehrheit manchmal stabiler sind als solche mit üppiger Mehrheit. Denn bei knapper Mehrheit muss jeder Einzelne sein Handeln stärker hinterfragen und steht mehr in der Verantwortung. Konrad Adenauer wurde mit nur einer Stimme Mehrheit zum Kanzler gewählt, er bildete dann aber eine sehr stabile Regierung. Ich kann mir vorstellen, dass wir diesen Effekt auch jetzt sehen werden. Alle sind sich den Unzufriedenheiten innerhalb der Fraktionen bewusst und werden im besten Fall versuchen, das nicht noch zu verstärken.
Ist Merz eine tragische Figur?
NIDA-RÜMELIN: Merz hat einiges hinter sich, er kandidierte zweimal vergeblich als Parteivorsitzender und erlebte die größte Demütigung unter Merkel. Wäre seine Kanzlerschaft jetzt gescheitert, hätte er langsam zur tragischen Figur werden können. Aber denkt man an die antiken Tragödien, muss man eine gewisse Fallhöhe erreichen, um wirklich zur tragischen Figur zu werden. Die muss sich Merz erst mal erarbeiten.
Kann Merz Respekt und Vertrauen zurückgewinnen?
NIDA-RÜMELIN: Er ist ein guter Rhetoriker, kann frei reden und spitzt gerne zu. In den letzten Wochen hat er sich extrem zurückgehalten, was ungewöhnlich war. Ihm war offenbar bewusst, dass er als Bundeskanzler anders auftreten und mit der SPD koalieren muss. Das heißt auch, dass er seine anti-sozialdemokratischen Affekte in den Griff bekommen muss. Ich kann mir vorstellen, dass er umso mehr versuchen wird, seriös zu regieren und sein etwas lockeres Mundwerk im Zaum zu halten.
Sie sind also hoffnungsvoll, was die künftige Regierung angeht?
NIDA-RÜMELIN: Für die Demokratie muss man immer hoffen. Man muss Merz nicht mögen und seine politischen Positionen nicht unterstützen. Aber würde diese Kanzlerschaft scheitern, hätte das destabilisierende Folgen für die Demokratie. Niemand, der vernünftig denkt, kann das wollen.
Zur Person
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin war bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als SPD-Mitglied war er Kulturstaatsminister unter Gerhard Schröder, er hat mehrere Bücher geschrieben und war bis 2024 stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
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