Diese Filme und Stars ragten bei den Filmfestspielen in Cannes heraus
Die Vergangenheit war übermächtig bei den Festspielen von Cannes. Die Frage bleibt, ob ihr Zauber auch für die Zukunft reicht. Einige neue Namen und Filme geben Anlass zur Hoffnung.
Der vielleicht sinnträchtigste Film des diesjährigen Festivals von Cannes wurde nie gedreht. In Victor Erizes „Cerrar los ojos“ (‚Close your eyes‘) muss ein Regisseur die Arbeit an seinem Streifen abbrechen, als der Hauptdarsteller spurlos verschwindet. Jahrzehnte später ist das Leben des fiktiven Filmemachers immer noch von diesem Verlust geprägt, bis die Vergangenheit und mit ihr die Fragmente des Werks eine überwältigende Wiederkehr feiern.
Mit seinem in der Realität fertig gestellten Film feiert der 82-jährige spanische Regisseur Erizes ein eigenes Comeback nach rund 30 Jahren und hätte eigentlich einen Platz im Wettbewerb verdient gehabt. Auch weil seine melancholische Hommage an die Macht des Kinos eine Haltung und Atmosphäre beschwört, die das diesjährige Festival kennzeichnet. In einer Szene stimmt die Hauptfigur Ricky Nelsons Oldie „My rifle, my pony and me“ aus „Rio Bravo“ an, und der Saal begann, vereint im kollektiven Erkennen dieses Songs, spontan zu klatschen.
Die Welt des Kinos braucht diese Momente, umso mehr, als die Ikonen der Branche auf bröckelndem Podest stehen. Das spektakulärste Beispiel war die Premiere des wohl letzten „Indiana Jones“, die bei der regulären Pressevorführung mit Applaus gefeiert wurde. Vermutlich hätte sich das anders verhalten, wäre der Protagonist nicht der 80-jährige Harrison Ford gewesen, dessen Alter in der Geschichte auf ebenso emotionale wie originelle Weise thematisiert wird.
Harrison Ford – das männliche Gesicht von Cannes 2023
Dagegen sind die Teile des Films, in denen der Senior per Künstlicher Intelligenz verjüngt auftritt, die am wenigsten überzeugenden. Die realen Tränen dagegen, die der Darsteller angesichts der stehenden Ovationen bei der Premiere vergoss, sorgten für Schlagzeilen. So gesehen mag man Harrison Ford, der sogar bei seiner Premierenparty noch Kurzinterviews gab, als das männliche Gesicht von Cannes 2023 bezeichnen.
Ein weiterer 80-Jähriger durfte sich der Reverenzen des Fachpublikums gewiss sein: Mit „Killers of the Flower Moon“ legte Martin Scorsese einen Film vor, in dem von der fiebrigen Dynamik seiner frühen Meisterwerke kaum noch etwas übrig ist. Aber neun Minuten stehende Ovationen bei der Premiere bedeuteten bis 25. Mai den ersten Platz in den Klatsch-Charts von Cannes 2023.
Auch sonst war die Vergangenheit allgegenwärtig. Als cholerisch-charismatischer Heinrich VIII. in dem überaus positiv aufgenommenen Historienfilm „Firebrand“ lieferte Jude Law eine der kraftvollsten Leistungen seiner Karriere. Toddy Haynes wiederum beschwor in dem Melodram „May December“ wieder einmal Geist und Ästhetik eines Douglas Sirk. Die Hauptfigur von Wim Wenders' „Perfect Days“ ist ein japanischer Classic-Rock-Fan. Nahezu unverschämt schwelgerisch wird die Nostalgie in Trần Anh Hùngs „La passion de Doudin Bouffant“ (‚The Pot-au-Feu‘) – eine in gemäldeartige Landschaftsidyllen eingebettete Ode an die Kulinarik des 19. Jahrhunderts.
Gefeiert in Cannes: Aki Kaurismäki mit seiner Tragikomödie „Kuolleet lehdet“
So gesehen ist es nur konsequent, dass Filmemacher sich allen modernen Moden verweigern. Bestes und meist gefeiertstes Beispiel von Cannes ist Aki Kaurismäki mit seiner Tragikomödie „Kuolleet lehdet“ (‚Fallen Leaves‘), der seinem gewohnten lakonischen Erzählstil, dem proletarischen Milieu und seinen feinsinnigen Charakterporträts auf herrliche Weise treu bleibt. Problematisch wird es nur dann, wenn sich Filmemacher so sehr treu bleiben, dass ihr alter Stil zur gehaltlosen Attitüde erstarrt. Das darf leider für Wes Anderson gelten, der mit „Asteroid City“ wieder ein kunstreich designtes Fabergé-Ei serviert, aber dabei auf die Qualitäten des Geschichtenerzählens vergisst.
Doch die Vergangenheit kann auch ein Sumpf sein, die einen scharfen Blick aus der Distanz braucht. Am eindrucksvollsten zeigt sich dieser bei Jonathan Glazers „Zone of Interest“, das einen radikalen Ansatz in der Behandlung des Holocausts findet. Der britische Regisseur richtet seinen Fokus auf das idyllische Leben, das Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß mit seiner Familie am Rande der Todesfabrik führt, und demonstriert die viel zitierte Banalität des Bösen mit einer atemberaubenden Konsequenz.
Dank eines perfekten Zufalls ist die Darstellerin von Höß‘ Gattin, Sandra Hüller, auch das Gesicht eines zweiten Films, der die Finger in die Wunden der Vergangenheit legt – Justine Triets begeistert aufgenommenes Gerichtsdrama „Anatomie d’un chute“ (‚Anatomy of a Fall‘), das mit klinischer Präzision und erzählerischer Raffinesse die Hintergründe eines tödlichen Unfalls seziert.
Sandra Hüller – das weibliche Gesicht von Cannes 2023
Angesichts der Elogen auf beide Filme darf die Schauspielerin wohl als das weibliche Gesicht von Cannes 2023 gelten. Zwangsläufig besitzt sie indes nicht den Nimbus eines Harrison Ford. Und so stellt sich erneut die Frage, ob die Welt des Kinos noch derartige Größen hervorbringen kann. Denn die Generation der Superstars von einst absolviert ihre Abschiedsrunde. Und Nachwuchs von derartiger Strahlkraft findet sich schwer.
Hilft also nur noch der Blick zurück, wenn man sich an das wahre Potenzial des Kinos erinnern will? Vielleicht sollte man nicht zurück, sondern in eine andere Richtung schauen. Und zwar nach Osten. Einer der klangvollsten Namen von Cannes war der von Sunny Leone. Wenn ihr Name im Westen nichts auslöst, liegt das daran, dass die Darstellerin mit dem indischen Gangsterepos „Kennedy“ Premiere feierte. In ihrer Heimat verfügt die 43-Jährige über eine Gefolgschaft, mit der auch ein Harrison Ford glücklich sein dürfte.
Ein privates Video von einem öffentlichen Auftritt in Kerala zeigt sie inmitten von tausenden von applaudierenden Fans auf Dächern und Straßen. Vielleicht ist es das, was das Kino für sein Weiterbestehen braucht – einen ungefilterten Enthusiasmus, der nicht von der Blässe hochnervöser Überkorrektheit angekränkelt ist. Mit dieser Naivität des Schauens lässt sich im Vorführsaal das erleben, was sich dann im Schluss von „Cerrar los ojos“ ereignet: ein Wunder.
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