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Foto: Magdalena Weyrer
Foto: Magdalena Weyrer

Christoph Ransmayr (inzwischen 67, hier im Jahr 2012): Seit „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984) und „Die letzte Welt“ (1988) ist der Österreicher eine feste Größe der Literatur. Das bestätigt jetzt „Der Fallmeister“.

Literatur
28.03.2021

Christoph Ransmayr: Was lässt den Menschen zur Bestie werden?

Von Wolfgang Schütz

Unsere düstere Zukunft: Starautor Christoph Ransmayr führt im neuen Roman „Der Fallmeister“ voller Poesie zu Klimakatastrophe, Nationalismen und Krieg.

Es gibt zwei große Fragen, die im Herzen dieses neuen Buches von Christoph Ransmayr lodern. Und um das Wesentliche an ihnen zu erkennen, muss man sie ganz zitieren.

Erstens also: „Wie dünn, möglicherweise bloß hauchzart, war die Membran, die das Innerste eines friedlichen, Musik und Malerei und dazu Süßigkeiten, seine Kinder oder wenigstens sein Vieh liebenden Menschen von einer Bestie trennte? Und was mußte geschehen, um diese Membran zu zerreißen, die Bestie aufzuscheuchen und einander völlig entgegengesetzte Möglichkeiten einer menschlichen Existenz wie in einem Kehrwasserwirbel ineinanderstürzen zu lassen?“

Und zweitens: „( …)wonach sehnten sich die Führer der europäischen Nationalstaaten, wonach die zum Protest gegen parlamentarische Demokratie ausufernden Zwergenverbände und Grafschaften mit ihren mittelalterlichen Namen und ihren idiotischen Hymnen …, wovon träumten die in Horden und Stämme zerfallenden Völker eines Kontinents, der einmal wie vernarrt gewesen war in die Utopie der Einheit? Knallten denn mit all diesen, an tausend Masten hochgezogenen, Fahnen und Flaggen mit ihren aufgestickten Adlern und Schwertern und Löwen nicht allein die Zeichen einer finsteren Vergangenheit?“

In Ransmayrs "Der Fallmeister" gibt es Säuberungen überall in Europa

Das Wesentliche daran ist zweierlei. Mit „Der Fallmeister“ gibt es einerseits ein sofortiges und freudiges Wiedererkennen. Da ist er wieder, Christoph Ransmayr, dieser Stilist, der, wie vielleicht sonst nur noch Martin Mosebach, sofort aus all den Veröffentlichungen dieses Frühjahrs herausragt, weil Sprache bei dem Österreicher so viel mehr ist als die möglichst stimmige, möglichst realistische Schilderung von Gefühlen, Gedanken und Geschehnissen. Die Schönheit, die Kraft und die Unzweckmäßigkeit der Poesie kommen in seinem Melodie- und Bildreichtum wieder zu ihrem Recht. Wer das, wie mancher Kritiker, für Manierismus hält, ist inmitten des dröhnenden Gegenwartshandwerks wohl schon taub geworden für diese unzeitgemäße Kunst.

Andererseits aber offenbart das mal wieder dünne Büchlein dieses längst reich dekorierten Autors eine allmähliche und beunruhigende Neuentdeckung. An menschliche Grenzfragen und in menschliche Abgründe hat Ransmayr immer wieder geführt. Aber sei es bei einer österreich-ungarischen Schiffsexpedition in „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, sei es im Nachweltkriegsdrama „Morbus Kitahara“, sei es auf den Spuren von Ovid in „Die letzte Welt“, sei es zuletzt in „Cox“, im einstigen China an den Grenzen der Zeit – immer setzte die Kunst dieses Weltreisenden an historischen oder zumindest alternativhistorischen Szenarien an. Nun aber liefert der kürzlich 67 Jahre alt gewordene Autor seine erste Dystopie, eine düstere Zukunftsvision. Technisch wird sie nur an wenigen Details kenntlich, wie etwa an der Präsenz von Quantenrechnern oder an je nach Nutzer zensierten Bildern der Wirklichkeit.

Aber szenisch ist sie voll entfaltet: Die Menschheit wird bedroht von steigenden Meeresspiegeln, ringt mit schwindenden Trinkwasserreserven und ist im Kampf ums Überleben restlos zersplittert in Konkurrenz – führt von der Tyrannei der nun Weißen Khmer in Kambodscha bis hinein in regionale Konflikte wie zwischen Hamburg und „den Holsteinischen“ Krieg.

Christoph Ransmayr entfaltet eine Rätselreise um einen Mord

Sein Ich-Erzähler in „Der Fallmeister“ ist als Hydrotechniker eines der globalen Wasser-Syndikate einer der Wenigen, die noch über die Unzahl von Grenzen durch die Welt reisen dürfen – zumeist in verplombten Zügen. Seine Mutter etwa ist wegen ihrer „adriatischen Herkunft“ bei er einer „Säuberung“ im irischen Bandon, wo sie doch mit ihrer neuen Familie lebte, in die alte Heimat zugeschickt worden …

Und um die Familiengeschichte geht es auch zunächst. „Der Fallmeister“ nämlich ist der Vater des Erzählers, so genannt, weil er in einer Art Museum das Handwerk vorführte, Boote über Schleusen einen mächtigen Wasserfall passieren zu lassen. Bis dabei fünf Menschen ums Leben kamen – und exakt ein Jahr später der Vater selbst sich am tosenden Gefälle in den Tod stürzte. Der Sohn ist sich sicher: Das erste war kein Unfall, sondern Mord. Und er gerät ins Zweifeln: War das zweite nur fingiert, Vorwand für ein Verschwinden? Er macht sich also auf den Weg, auch zur Schwester, die seit Kindheit an Glasknochenkrankheit leidet, ihm sehr viel mehr war als eine Kameradin und nun schmerzlich fern an der Seite eines Deichgrafen lebt. Die Reise führt ihn an die Abgründe des Menschseins. In beiderlei Hinsicht: an die Membran zur Bestie im Einzelnen – und in der Gesamtheit zum Rückfall in die finstere Vergangenheit.

So wird aus dieser privaten Geschichte mit dem bescheidenen Untertitel „Eine kurze Geschichte vom Töten“ eine Ransmayr-typisch umfassend befragende. An den Grenzen aller Gewissheiten stehend, auf sich selbst zurückgeworfen und nach Halt suchend: So wird der Mensch allzu leicht schuldig. Gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst, seinen eigenen Hoffnungen, seinen Werten. Meist ohne es zu merken. Aus Angst gerät er ins Gefälle. Und wenn er dann vor seinen Taten steht, kann er wohl höchstens als Einzelner noch auf Trost oder gar Rettung hoffen …

Diese Poesie Ransmayrs ist bei all ihrer zeitlosen Schönheit und ihrem samt fataler Geschwisterliebe geradezu antiken Drama also erstmals auch das: ein aktuelles Alarmsignal. Und dabei über allen bloßen Realismus des Erzählens hinaus beängstigend realistisch im Erzählten.

Bei Ransmayr ist die Firnis unserer Zivilisiertheit nur sehr dünn

Und darum auch eine letzte Fragerunde mir Ransmayr: „War die Chronik der Barbarei denn nicht voll von den Geschichten mitleidloser Mörder und Massenmörder, die das Gesäusel romantischer Ouvertüren verträumt nachsummten oder in ihrer Liebe zu den in blaue Fernen davonrollenden Weltlandschaften alter Meister schwärmten, den Zauber des Vogelsangs beschworen oder die florale Pracht altchinesischer Seidenteppiche? Hatten manche dieser Monster ihren verängstigte Besuchern nicht voll Stolz Fotoalben gezeigt, die Bilder zartester Kristallstrukturen von Schneeflocken und Eissternen enthielten, die gemäß ihrer Entstehungsbedingungen im gesamten Universum nur ein einziges Mal und niemals wieder vorkamen, wenn sie unter der Wärme eines Atemzugs dahinschmolzen? Und wie oft war dokumentiert worden, daß einige der bösartigsten Bluthunde in ihren von Orden und Ehrenzeichen klirrenden Paradeuniformen beim Anblick eines sein Willkommensgedicht stammelnden Mädchens mit Blumen in der Kinderfaust nasse Augen bekamen oder sich zu einer verzückten Mutter und ihrem Säugling hinabbeugten, um das vom Geschrei entstellte Faltengesicht zu tätscheln?“

Der Ich-Erzähler dieses kleinen, wieder mal großen Buches jedenfalls muss all das schmerzlich an sich selbst erfahren. Was er liebt, gerade das zerstört er – nur noch die eigenen Bedürfnisse sehend, blind für die Welt und den anderen an sich. Die Firnis der menschlichen Kultur, der Zivilisation ist dünn, entlarvt sich schnell als täuschender Schleier. Wir taugen alle zur Bestie. Wehe uns also, wenn wir es darauf angelegen, uns auf uns selbst zu verlassen.

Und als wollte uns der Autor selbst die Lehre unmittelbar vor Augen halten, serviert er in diesem Buch die kultivierte Freude an der Schönheit ja mit. Wenn Christoph Ransmayr die Natur beschreibt, das Glück des Beisammen-, die Erfüllung des Beisichselbstseins – dann ist all dies vergiftet. Denn dem Menschen als solchem ist nicht zu trauen. Besser: Ihm muss trotz allem alles zuzugetraut werden. Durch seine Vergangenheit lässt er sich nicht etwa für seine Zukunft belehren. Viel mehr ist er bereit, sie im Zeichen der Angst für sein Heil zu verklären. So kann er allzu leicht zum Brunnenvergifter seines Nächsten werden. Im Großen und Ganzen kann es trostlos werden.

Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister - Eine kurze Geschichte vom Töten" (S. Fischer, 224 Seiten, 22 Euro)

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