Annie Ernaux erhält Nobelpreis für Literatur 2022
Der diesjährige Literatur-Nobelpreis geht an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, die radikal und schnörkellos über ihr eigenes Leben schreibt. Dabei wirft sie einen präzisen Blick auf die Gesellschaft.
In gespannter Erwartung richten sich jedes Jahr an einem Donnerstag im Oktober die Blicke auf eine weiße Tür, die sich im Gebäude der Schwedischen Akademie in der Altstadt von Stockholm befindet. Punkt 13 Uhr tritt durch sie der Ständige Sekretär der Akademie, um den Nobelpreisträger für Literatur bekannt zu geben. Im letzten Jahr war die Überraschung groß, als Mats Malm den Namen des tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah verlas, dessen Werk bis dahin nur einem kleinen Kreis bekannt war. Mit Annie Ernaux hingegen prämiert die Akademie im Jahr 2022 eine Autorin , die seit Jahren zu den Favoritinnen für diese höchste literarische Auszeichnung gehört.
Seit über vier Jahrzehnten schreibt Annie Ernaux Bücher - Bücher über sich und ihre Herkunft. Erst spät erreichte sie damit auch Bekanntheit. Nun wird die 82-jährige französische Schriftstellerin mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, gab die Schwedische Akademie am Donnerstag mittag in Stockholm bekannt. Sie bekomme den Preis "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt", begründete Mats Malm die Entscheidung.
Nobelpreisträgerin Annie Ernaux: "Ethnologin ihrer selbst"
Der Durchbruch in Deutschland gelang Annie Ernaux 2017 mit dem Buch "Die Jahre". Demnächst erscheint "Das andere Mädchen", in dem sie über eine vor ihrer Geburt mit sechs Jahren verstorbene Schwester schreibt, die sie nie kennenlernte. Erneaux blickt n ihren Büchern nicht nur radikal und in schnörkellosem Stil auf ihr eigenes Leben, sondern verbindet ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Zeit und der Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde.
Als "Ethnologin ihrer selbst", bezeichnete sie sich einmal. Die über zwanzig Bücher der Schriftstellerin lesen sich wie ein Selbsterkundungsprojekt. Wie sie selbst sagt, versucht sie ihre persönlichen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis zu finden, denn für sie ist ein "Ich" nicht ohne die anderen und ohne Geschichte denkbar. Und so gehen ihre Geschichten über ihre persönlichen Erlebnisse hinaus; sie betten sich ein in kollektive Erfahrungen, die durch gesellschaftliche Zwänge und Ereignisse die "Ichwerdung" beschränken.
In Deutschland wird Ernaux von Kritikern als Meisterin des Autofiktionalen gefeiert oder sogar als weiblicher Proust, in Anspielung an ihren berühmten Landsmann Marcel Proust (1871-1922). Ihre Bücher schaffen es regelmäßig auf deutsche Bestsellerlisten. Eines ihrer jüngsten auch in Deutschland erschienenen Werke trägt den Titel "Das Ereignis". Das fast autobiografische Buch handelt von den fast schon grausamen Versuchen der Autorin abzutreiben, in einer Zeit, in der die Abtreibung noch als unmoralisch und kriminell betrachtet wurde. Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan, die dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig erhielt.
Annie Ernaux arbeitete als Gymnasiallehrerin
Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der Normandie geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater verdiente den Lebensunterhalt als einfacher Arbeiter. Ihre Kindheit war geprägt vom frühen Tod ihrer älteren Schwester. Nach dem Studium der Neueren Literatur wurde sie Gymnasiallehrern.
Im Jahr 1974 erschien ihr erster Roman "Les armoires vides" (dt. "Die leeren Schränke"). Als sie sich 1980 scheiden ließ, war sie Mutter von zwei Kindern. 1984 erschien "La Place" (dt. "Der Platz"). Der Roman, für den sie den renommierten Renaudot-Preis erhielt, handelt von ihrem Vater und ihrem eigenen sozialen Aufstieg. In "Eine Frau" beschwört sie die Erinnerungen an ihre Mutter herauf, in "Passion simple" ihre Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann. Zu ihren erfolgreichsten Büchern gehört "Les années", "Die Jahre", aus dem Jahr 2008. Das Werk ist eine Rückschau auf 60 Jahre ihres Lebens, ein Blick auf eine Frau, die sich verändert - zusammen mit der Welt.
Ihr Erzählstil ist neutral, distanziert. Sie selbst bezeichnet ihn als objektiven Stil, der die erzählten Tatsachen weder auf- noch abwertet. Als Ernaux 2019 mit dem deutsch-französischen Prix de l'Académie de Berlin ausgezeichnet wurde, lobte die Jury ihre Schriftstellerei als "hochmoderne, gewagte, meisterlich komponierte Literatur, die von Klassenkämpfen, den Zumutungen kultureller Differenz und der Emanzipation der Frauen erzählt".
Mehr als 230 Namen standen auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis für Literatur 2022
Mehr als 230 Autorinnen und Autoren standen in diesem Jahr als Kandidaten auf der Liste der Schwedischen Akademie, darunter der französische Skandal-Autor Michel Houellebecq, die kremlkritische Russin Ljudmila Ulitzkaja und der Japaner Haruki Murakami. Immer wieder war in diesem Jahr auch Salman Rushie, der bei einem Attentat im August schwer verletzt wurde, als Kandidat ins Spiel gebracht worden. (m-b/dpa)
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