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Marc Sinan komponiert Oratorium für das Augsburger Friedensfest 2025

Augsburger Friedensfest.

„Wir müssen vom Frieden erzählen“: Komponist Marc Sinan über sein Werk zum Augsburger Friedensfest

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    „Befreiung“, so heißt das Werk, das der Künstler Marc Sinan für das Augsburger Friedensfest komponiert hat.
    „Befreiung“, so heißt das Werk, das der Künstler Marc Sinan für das Augsburger Friedensfest komponiert hat. Foto: JLDiehl

    Dina aus Zagreb war noch ein Kind, als sie ihre Befreiung erlebte. Der Faschismus herrschte in Kroatien, seit 1941 verfolgte die Regierung alle Juden im Land. Menschen also wie Dina und ihre Familie. Die Faschisten verschleppten das kleine Mädchen, seine Mutter und seine Großmutter in das Internierungslager Lobograd. Jahre später erzählt Dina, wie sie aus dem Lager entkam: „Meine Mutter war eine tapfere Frau. Sie wickelte mich wie ein Paket ein, ich weiß nicht, wie ich atmen konnte. Sie befestigte eine Notiz an mir.“ Name. Geburtsdatum. Adressiert an die Cousine von Dinas Mutter, mit der Bitte, für das Kind zu sorgen. Und dort fand das Mädchen aus dem verschickten Paket tatsächlich Unterschlupf, Schutz und – Freiheit. Erst nach Kriegsende erfuhr Dina, dass sie jüdische Wurzeln hat.

    Marc Sinan hat Lebensgeschichten wie diese gesammelt, vom Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Tag der Befreiung: „Von dieser Zeitenwende waren damals 230 Millionen Menschen in Europa betroffen“, sagt der Komponist aus München. Und aus der Vielzahl und Vielfalt der Geschichten hat Sinan jetzt zehn ausgewählt. Aus den gefundenen Biografien hat er eine Komposition geschaffen. „Befreiung“ heißt das Oratorium, das beim Augsburger Friedensfest 2025 zur Uraufführung kommt. Das Konzert am Donnerstag, 8. Mai, beginnt mit einer Prozession: Etwa 250 Laiensänger werden gemeinsam auf dem Weg vom Rathausplatz zur evangelischen Heilig-Kreuz-Kirche singen. Und dort stimmen dann Orchester aus allen Ecken Europas in das Werk ein.

    Marc Sinan hat ein Werk für das Augsburger Friedensfest 2025 geschrieben

    Die Stadt Augsburg feiert jedes Jahr das Hohe Friedensfest – und erinnert damit eigentlich an das Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Doch 2025 dauert das Fest länger, Kultur-Programm von Mai bis zum Festtag, dem 8. August. Anlass ist ein zweiter Frieden: Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Durch Sinans Oratorium führen zehn Geschichten von diesem Kriegsende, gesammelt aus zehn Ländern. Die Lebenslinien fließen in die Musik, Ensembles aus Marseille, Belgrad, Zagreb, Berlin spielen gemeinsam. Im Konzert werden sie per Video-Schalte verbunden sein, mit Ton und Bild. Vor Ort, in der Heilig-Kreuz-Kirche, spielen die Augsburger Philharmoniker und auch Chöre der Stadt werden mitsingen, Profis wie Laien.

    8. Mai 1945, Nazi-Deutschland kapituliert, es ist der „Tag der Befreiung“. Aber Sinan entdeckte sehr schnell in seiner Recherche, dass der Begriff der Befreiung nicht nur die eine Geschichte, die eine gültige Erzählung vom Frieden kennt. „Es war eine vage Vorstellung, die ich bisher von der Befreiung hatte“, sagt er. Sinan wurde 1975 in München geboren, als Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters. Er habe immer mit dem westdeutschen Blick auf das Kriegsende geblickt, also mit den 80 Jahren Frieden vor Augen, die folgten. In anderen Ländern Europas dauerte der Moment aber nicht lange an. Diktaturen unterdrückten die Freiheit, zum Beispiel in Spanien, Kriege brachen aus im ehemaligen Jugoslawien. „Es gibt keine einzelne Perspektive, die für ganz Europa Gültigkeit hat. An jedem Ort Europas wird die Geschichte von der Befreiung aus einem anderen Blickwinkel erzählt“, sagt Marc Sinan. „Es sind nur zehn von 230 Millionen Befreiungsgeschichten zum Ende des Krieges in Europa. Jeder Moment wäre erzählenswert.“

    Marc Sinan findet seine Themen in den Wirren und Härten der Geschichte

    Marc Sinan findet seine Themen immer wieder in der Geschichte. Holocaust. Armenischer Völkermord. Die rassistischen Morde des NSU. In Musikwerken hat sich der Komponist mit diesen Kapiteln von Hass und Gewalt befasst. Seit 2021 konzentriert sich Sinan auf die Frage von Krieg und Frieden. Alles begann, so erzählt er, mit der Recherche an seiner eigenen Familiengeschichte: Seine Tante war in ihrer Jugend begeistert vom Nationalsozialismus, sein Großvater dagegen überzeugter Demokraten, zeitlebens. Und dann brach in der Gegenwart wieder Krieg in Europa aus, als Russland die Ukraine überfiel. Bilder von Kampf, Zerstörung, Leid, Tod. Debatten um Hilfe, Bewaffnung, Wehrpflicht. „Der Frieden gerät unter Rechtfertigungszwang“, so formuliert Marc Sinan, was er beobachtet. „Wir erleben eine klimatische Veränderung in unserer Gesellschaft, wir fallen in eine fast schon kindliche Regression. Wir fallen zurück in Muster, die in der Geschichte schon einmal gescheitert sind, wie zum Beispiel den Nationalismus, die Abschottung.“ Er sieht die Muster der Gewalt, die sich wiederholen: „Der Krieg ist nichts Vergangenes, er ist etwas, das zutiefst mit uns Menschen verbunden ist.“

    Sinan will die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen – und auch mit den Musikern selbst auf der Bühne. Die zehn Geschichten des Werks sind eng verbunden mit den Herkunfts- und Familiengeschichten der Sänger und Instrumentalisten. Welchen Beitrag kann dann die Musik zum Text leisten? Wenn Töne allein keine Geschichten erzählen? „Ich bin überzeugt, dass wir diese Welt nicht vollständig in Zahlen und Buchstaben ausdrücken können“, sagt Sinan. „Die Musik ist das, was zwischen den Worten stattfindet.“ Was ihm wichtig ist, in seinem großen europäischen Mosaik: Dass auch Laien-Chöre mitsingen, die in Augsburg zu Hause sind. Ein Friedensensemble mit dem Chor Augustana der Sing- und Musikschule, dem Basilikachor St. Ulrich und Afra, dem Mozartchor und Da Copo, dem Polizeichor Schwaben Nord. „Das ist für mich der stärkste Moment, wenn die Laienmusiker im Werk hervortreten“, sagt der Komponist. „Da bricht ein Stück Wirklichkeit herein.“

    Die Uraufführung des Oratoriums „Befreiung“ beginnt mit einer Prozession

    Ist er ein Optimist? Ja, sagt Marc Sinan. Er will mit seinem Werk „Befreiung“ daran erinnern, dass die Europäische Union ein großes Friedensprojekt ist, trotz aller Zweifel und Konflikte. Die gefundenen Lebensgeschichten sind für ihn ein Beweis, dass Handeln für den Frieden möglich ist, dass sich auch Zukunft gestalten lässt: „Wir müssen vom Frieden erzählen, nur so kann er Wirklichkeit werden, und wenn wir nicht von der Zukunft erzählen, wird sie so nicht stattfinden.“

    Info: „Befreiung – ein europäisches Friedenskonzert“. Uraufführung: Donnerstag, 8. Mai, um 19.30 Uhr beginnt eine Prozession, die vom Augsburger Rathaus zur evangelischen Heilig-Kreuz-Kirche führt. Mitwirkende: Andrea Molino (Dirigent), Susanne Wolff (Erzählerin), Ensemble C Barré (Marseille), Ensemble degli Intrigati (Montepulciano), Ensemble Metamorphosis (Belgrad), Spółdzielnia Muzyczna Contemporary Ensemble (Kraków), Marc Sinan Company (Berlin), Neue Vocalsolisten (Stuttgart) und weitere. Tickets unter www.friedensfest-augsburg.reservix.de sowie bei der Bürger- und Tourist-Information am Rathausplatz.

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