Neue Jazz-Alben: Michael Wollny erzählt Spukgeschichten mit Jazz-Tönen
Reingehört in neue Jazz-Alben: Das Michael Wollny Trio jagt Geister, der Drummer Günter "Baby" Sommer meldet sich zurück und "Lisbeth" glänzt mit Saxofon.
Ein bisschen Grusel gefällig? Nicht im geschmacklichen Sinn, denn da ist zum Glück alles im Lot. Aber immer, wenn Deutschlands Vorzeige-Jazzpianist Michael Wollny seinen Hang zum Spukhaften und Übersinnlichen auslebt, dann läuft er zur absoluten Hochform auf.
Wer sich noch an seine Einspielungen "Hexentanz", "Wunderkammer" oder "Nachtfahrten" erinnern kann, wer jemals seine Vertonung zum Stummfilm-Horrorklassiker "Nosferatu" gehört hat, der weiß nur zu genau, dass die Zwischenwelten den inzwischen 44-Jährigen offenbar besonders inspirieren. Natürlich kann man als verantwortungsbewusster Gralshüter des bundesrepublikanischen Jazzerbes nicht pausenlos den Tasten-Emo geben und den Leuten einen veritablen Schauer über den Rücken jagen, zumal Wollny ja seit dieser Woche als "Artist in Residence" an der Alten Oper Frankfurt bis Juni 2023 die wichtigsten Projekte seiner Karriere neu aufbereiten darf. Aber hin und wieder die Geister rauslassen, das hat schon was!
So klingt das neue Jazz-Trioalbum von Michael Wollny
Nicht umsonst trägt sein aktuelles Trioalbum, das er mit seinen Weggefährten Eric Schaefer (Schlagzeug) und Tim Lefebvre (Bass) eingespielt hat, den verheißungsvollen Titel "Ghosts" (ACT/edel). Darauf versammelt Wollny zehn Spukgeschichten, die sich auf unterschiedlichste Weise mit dem mal tröstlichen, mal trügerischen, mal verstörendem Fortleben der Gespenster von gestern in der Gegenwart auseinandersetzen. Als Grundlage diente unter anderem das Schlagwort "Southern Gothic", ein Subgenre der amerikanischen Schauerliteratur, eine Art Südstaatengrusel, der seine schwüle Magie auch in Serien wie "Ozark" oder "True Detective" entfaltet. In einem verwunschen wirkenden Hamburger Studio, das wie ein Unterschlupf des Grafen Orlok anmutete, zerzausten die drei nach allen Regeln der klangtechnischen Kunst alte Jazzstandards wie "I Loves You, Porgy" und "In A Sentimental Mood", aber auch den "Erlkönig". Die Bearbeitungen klingen völlig fremd und gleichzeitig seltsam vertraut, wie die Bruchstücke eines Traumes, der beim Aufwachen langsam zerbröselt. Giftige Klangschlieren, dezente Dissonanzen und spirituelle Raserei – ein in jeder Hinsicht geistreiches Werk.
DDR-Jazz-Ikone Günter "Baby" Sommer lässt wieder aufhorchen
Beneidenswert: Der Schlagzeuger Günter "Baby" Sommer, eine Ikone des Untergrundjazz der DDR, nützt die Musik als Jungbrunnen. Im kommenden Jahr feiert er immerhin schon seinen 80. Geburtstag, und da will er auf keinen Fall einen Gang zurückschalten! Sommer ist sowieso immer für eine Überraschung gut. Nachdem die sächsische Freejazz-Ikone ein Album mit Schmuse-Trompeter Till Brönner aufnahm, verblüfft er nun mit Sturzbächen aus Adrenalin, die er sowie die Brüder Antonio, Simon und Robert Lucaciu über ihr gemeinsames Album "Karawane" (Intakt) ausschütten. Die drei deutschen Musiker mit rumänischen Wurzeln, die locker als seine Enkel durchgehen könnten, werden von Sommer mit seinem fordernden, rockähnlichen Drumming mitunter vor sich hergetrieben. Der alte Alterslose trommelt sich so feinfühlig wie kraftvoll durch die Urmusik Afrikas und nimmt die Jazztradition dabei gleich huckepack. Das Album ist feinste multiple Klangkunst, buntestes Kaleidoskop und Lebensfreude pur.
Charlotte Greve und ihr Quartett präsentieren ein neues Album
Seit vielen Jahren schon verteidigt sie ihren Ruf als die mit Abstand beste deutsche Jazzsaxofonisten. Dass Charlotte Greve dies immer noch unter ihrem Pseudonym "Lisbeth" gelingt, spricht für ihre enormen klangmalerischen Fähigkeiten, die den Hörer stets in eine dezent dahinfließende Parallelwelt entführen, aber nie Langeweile verströmen. Auch das aktuelle Album des Lisbeth Quartetts, das den schlichten Titel "Release" (Intakt) trägt, ist ein Paradestück für kluges Understatement auf allerhöchstem Niveau. Greve bleibt immer bei sich, besinnt sich ganz auf ihre Stärken, spielt reduziert, akustisch, einfach und ohne Knalleffekt. Aber dafür extrem nachhaltig.
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